1Q84: Buch 3
vorstellen können, betrachten wir sie aus Gründen der Zweckmäßigkeit als gerade Linie. Gegenwärtig können nur wir Menschen diesen Gedankensprung leisten.«
»Aber vielleicht irren wir uns.«
Tengo dachte nach. »Du meinst, vielleicht ist es ein Irrtum, sich die Zeit als gerade Linie vorzustellen?«
Keine Antwort.
»Diese Möglichkeit besteht durchaus. Vielleicht hat die Krähe recht, und die Zeit ist keine gerade Linie. Vielleicht hat sie ja die Form einer Brezel«, sagte Tengo. »Aber die Menschen leben wahrscheinlich schon seit Zehntausenden von Jahren mit dieser Vorstellung. Wir begreifen die Zeit als eine sich endlos fortsetzende Linie und agieren auf der Grundlage dieser fundamentalen Erkenntnis. Und da bisher keine besonderen Mängel oder Widersprüche daran zu entdecken waren, gilt sie wohl als empirisch erwiesen.«
»Empi–«, sagte Fukaeri.
»Das bedeutet, anhand verschiedener Muster oder Beispiele zu erheben, ob eine Schlussfolgerung sachlich korrekt ist.«
Fukaeri schwieg. Tengo wusste nicht, ob sie ihn verstanden hatte.
»Hallo?« Er vergewisserte sich, dass sie noch am Apparat war.
»Wie lange bleiben Sie noch dort«, fragte Fukaeri, wie üblich ohne fragende Intonation.
»Wie lange ich noch in Chikura bleibe?«
»Ja.«
»Ich weiß noch nicht«, erwiderte Tengo aufrichtig. »Bis ich eine einleuchtende Erklärung habe, mehr kann ich im Moment nicht sagen. Es gibt hier ein paar ungeklärte Dinge. Ich möchte noch eine Weile beobachten, wie sich alles entwickelt.«
Fukaeri schwieg in den Hörer. Sobald sie verstummte, war ihre Präsenz nicht mehr spürbar.
»Hallo?«, sagte Tengo wieder.
»Versäumen Sie nicht den Zug«, sagte sie.
»Ich passe schon auf, dass ich ihn nicht versäume«, sagte Tengo. »Ist bei dir alles in Ordnung?«
»Vor kurzem ist jemand gekommen.«
»Wer?«
»Jemand von NHK .«
»Ein Gebührenkassierer?«
»Gebührenkassierer«, fragte Fukaeri ohne Fragezeichen.
»Hast du mit ihm geredet?«, fragte Tengo.
»Ich habe nicht verstanden, was er gesagt hat.«
Fukaeri wusste vermutlich nicht einmal, was NHK war. Ihr fehlten selbst die rudimentärsten Kenntnisse des alltäglichen Lebens.
»Ich kann dir das jetzt am Telefon nicht ausführlich erklären. Vereinfacht gesagt ist NHK eine große Firma, und viele Leute arbeiten für sie. Die gehen in ganz Japan von Tür zu Tür und sammeln monatlich Geld ein. Aber du und ich, wir brauchen kein Geld zu bezahlen, weil wir ihre Dienste nicht in Anspruch nehmen. Jedenfalls hast du nicht aufgemacht, oder?«
»Nein, habe ich nicht. Wie Sie gesagt haben.«
»Gut, das genügt.«
»Aber er hat was von Diebstahl gesagt.«
»Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen«, sagte Tengo.
»Wir haben doch nichts gestohlen.«
»Natürlich nicht. Wir beide, du und ich, haben nichts Schlechtes getan.«
Wieder schwieg Fukaeri in den Hörer.
»Hallo?«, sagte Tengo.
Fukaeri antwortete nicht. Vielleicht hatte sie schon aufgelegt. Es klang aber nicht so.
»Hallo?«, sagte Tengo noch einmal lauter.
Fukaeri räusperte sich. »Der Mann wusste sehr gut über Sie Bescheid.«
»Der Kassierer?«
»Ja, der Mann von NHK .«
»Und er hat dich eine Diebin genannt.«
»Er hat nicht von mir gesprochen.«
»Also dann von mir?«
Fukaeri antwortete nicht.
»Wie dem auch sei, ich habe keinen Fernsehapparat, also habe ich auch nichts von NHK gestohlen.«
»Aber er war sehr wütend, weil ich nicht aufgemacht habe.«
»Das macht nichts. Lass ihn ruhig wütend sein. Egal, was einer sagt, du machst auf keinen Fall die Tür auf.«
»Ich mache nicht auf.«
Damit hängte Fukaeri unvermittelt ein. Vielleicht kam es ihm auch nur so vor, und es war gar nicht unvermittelt. Jedenfalls wusste Tengo, dass es sinnlos war, Vermutungen darüber anzustellen, was Fukaeri dachte oder empfand. Auch das hatte er empirisch festgestellt.
Er legte den Hörer auf und kehrte in das Krankenzimmer zurück.
Man hatte seinen Vater noch nicht wieder zurückgebracht. Nur die Einbuchtung befand sich an der Stelle, wo er gelegen hatte. Keine Puppe aus Luft. Der dunkle, etwas kühle Raum war lediglich von der Präsenz des Kranken erfüllt, der bis vor kurzem noch dort gelegen hatte.
Seufzend ließ Tengo sich auf den Stuhl fallen. Beide Hände auf die Knie gelegt, starrte er auf das zerdrückte Laken. Nach einer Weile stand er auf und trat ans Fenster. Spätherbstliche Wolken erstreckten sich horizontal über dem Kiefernwäldchen. Zum ersten Mal seit langem
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