1Q84: Buch 3
geblieben? Glich sein Gehirn einem leeren Haus, dessen Bewohner mit sämtlichem Inventar spurlos verschwunden waren? Aber mussten sich dann nicht wenigstens ein paar Erinnerungen und Ereignisse in die Wände und Decken eingebrannt haben? Über lange Zeit gepflegte Gewohnheiten konnten doch nicht einfach so vom Nichts verschluckt werden. Vielleicht wanderte sein Vater, während er in diesem Sanatorium am Meer in seinem schmalen Bett lag, durch die dunkle Stille seiner leeren, inneren Räume und war von Dingen umgeben, die den Augen anderer verborgen blieben.
Irgendwann kam die junge Krankenschwester mit den roten Wangen. Sie lächelte Tengo zu und machte sich daran, die Körpertemperatur seines Vaters zu messen und die Menge der Infusionsflüssigkeit und der Ausscheidungen zu überprüfen. Die Werte trug sie mit Kugelschreiber in eine Tabelle auf einem Klemmbrett ein. Ihre Gesten waren mechanisch und versiert, als folge sie einem Handbuch. Während Tengo ihre routinierten Bewegungen beobachtete, überlegte er, wie es sein mochte, in dieser kleinen Stadt am Meer zu leben und alte demenzkranke Menschen zu pflegen, für die es keinerlei Aussicht auf Heilung gab. Die Schwester wirkte so jung und gesund. Ihre Brüste und Hüften unter dem gestärkten weißen Kittel besaßen genau die richtige Fülle. Unschuldige Härchen schimmerten golden auf der glatten Haut ihres Nackens. Auf einem Plastikschildchen an ihrer Brust stand der Name »Adachi«.
Was sie wohl an diesen entlegenen Ort verschlagen hatte, wo schleichendes Vergessen und Tod herrschten? Tengo kannte sie als tüchtige und gewissenhafte Krankenschwester. Jung und patent wie sie war, hätte sie sicher auch in einer anderen Art von Sanatorium arbeiten können, wenn sie gewollt hätte. Irgendwo, wo es interessanter und lebhafter zuging. Weshalb hatte sie sich ausgerechnet diesen traurigen Ort ausgesucht? Tengo hätte gern den Grund dafür gewusst. Wahrscheinlich hätte sie ihm sogar eine ehrliche Antwort gegeben, wenn er sie gefragt hätte. So viel konnte er sich denken. Allerdings hielt er es für besser, sich auf nichts einzulassen. Immerhin befand er sich in der Stadt der Katzen und musste eines Tages in den Zug steigen, der ihn in seine eigene Welt zurückbrachte.
Als die Schwester ihre Aufgaben erledigt hatte, legte sie die Tabelle wieder an ihren Platz.
»Es hat sich kaum etwas verändert. Alles wie gehabt.« Sie bedachte Tengo mit einem schüchternen Lächeln.
»Wenigstens ist sein Zustand stabil«, sagte er so heiter wie möglich.
Ein mitfühlendes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Sie neigte leicht den Kopf, und ihr Blick fiel auf das zugeklappte Buch auf seinen Knien. »Lesen Sie ihm vor?«
Tengo nickte. »Aber ich bezweifle, dass er etwas hört.«
»Trotzdem ist es gut«, sagte die Schwester.
»Gut oder schlecht, etwas anderes fällt mir sowieso nicht ein.«
»Aber nicht jeder würde das tun.«
»Im Gegensatz zu mir sind die meisten Menschen mit ihrem Leben beschäftigt«, sagte Tengo.
Schwester Adachi zögerte. Sie schien etwas sagen zu wollen, unterließ es aber. Sie sah erst seinen schlafenden Vater an und dann Tengo.
»Gute Besserung«, sagte sie.
»Danke«, sagte Tengo.
Bald nachdem Schwester Adachi gegangen war, begann er wieder zu lesen.
Als sein Vater gegen Abend auf dem Rollbett zur Untersuchung abgeholt wurde, ging Tengo in die Cafeteria, trank grünen Tee und rief dann von einem öffentlichen Telefon aus Fukaeri an.
»Gibt es was Neues?«, fragte er sie.
»Nichts Besonderes«, sagte sie. »Alles wie immer.«
»Bei mir auch. Jeden Tag das Gleiche.«
»Aber die Zeit vergeht.«
»Genau«, sagte Tengo. »Jeden Tag geht ein Tag vorüber.«
Und zwar unwiederbringlich.
»Gerade war die Krähe wieder da«, sagte Fukaeri. »Eine große Krähe.«
»Die kommt jeden Abend ans Fenster.«
»Sie macht immer das Gleiche.«
»Stimmt«, sagte Tengo. »Wie wir.«
»Aber sie denkt nicht an die Zeit.«
»Krähen haben vermutlich kein Zeitgefühl. Das gibt es wohl nur bei Menschen.«
»Warum.«
»Die Menschen begreifen die Zeit als linear. Als würden sie Markierungen an einem langen Stock anbringen. Wir sind hier und jetzt an einem bestimmten Punkt, und vor uns liegt die Zukunft und hinter uns die Vergangenheit. Verstehst du?«
»Ungefähr.«
»Doch in Wirklichkeit ist die Zeit keine gerade Linie. Sie hat überhaupt keine Form, sondern ändert je nach Bedeutung ständig ihre Gestalt. Aber weil wir uns formlose Dinge nicht
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