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1Q84: Buch 3

1Q84: Buch 3

Titel: 1Q84: Buch 3 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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vor. Sobald sie laufen konnte, hatte ihre Mutter sie mitgenommen, wenn sie von Tür zu Tür ging, um die Broschüren der Sekte zu verteilen, die Menschen vor dem bevorstehenden Weltuntergang zu warnen und sie zur Teilnahme an verschiedenen Versammlungen einzuladen. Wer den Zeugen beitrat, der würde den Weltuntergang überleben und in das Reich der Glückseligkeit eingehen. Auch Ushikawa hatte immer wieder Besuch von Mitgliedern der Zeugen erhalten. Meist waren es Frauen in mittlerem Alter, die einen Schirm oder einen Hut in der Hand hielten. Viele trugen eine Brille, durch deren Gläser sie ihr Gegenüber wie kluge Fische anstarrten. Häufig hatten sie Kinder dabei. Ushikawa stellte sich vor, wie die kleine Aomame hinter ihrer Mutter her von Tür zu Tür wanderte. Sie war nicht im Kindergarten, sondern gleich auf eine nahegelegene städtische Grundschule gekommen. In der fünften Klasse hatte sie die Sekte verlassen. Die Gründe für ihren Austritt waren nicht verzeichnet. Wer dem Teufel in die Hände fiel, den konnte man ihm getrost überlassen. Die anderen hatten genug damit zu tun, das Paradies zu verkünden und die Wege, die dorthin führten, zu beschreiben. Es bestand eine Art Arbeitsteilung: Die Guten taten gute Werke und die Teufel Teufelswerk.
    Es klopfte an die billigen Sperrholzwände in Ushikawas Kopf. »Ushikawa, Ushikawa!«, rief es. Er schloss die Augen und lauschte. Die Stimme war leise und hartnäckig. Anscheinend habe ich etwas übersehen, dachte er. Irgendwo in diesen Papieren steht eine bedeutsame Tatsache, die ich nicht erfasst habe. Das Klopfen weist mich darauf hin.
    Ushikawa ging die umfangreiche Akte noch ein weiteres Mal durch. Er folgte nicht nur dem Text, sondern führte sich alle möglichen Szenen konkret vor Augen. Die dreijährige Aomame auf Missionsgang im Schlepptau ihrer Mutter. Meistens wurde ihnen die Tür vor der Nase zugeschlagen. Aomame kam in die Schule. Doch das Missionieren ging weiter. Jedes Wochenende. Wahrscheinlich hatte sie nie Zeit, mit ihren Freundinnen zu spielen. Oder vielleicht hatte sie nicht einmal welche. Es kam häufig vor, dass die Kinder der Zeugen in der Schule gehänselt und geschnitten wurden. Das wusste Ushikawa aus seiner Lektüre über die Sekte. Mit elf Jahren war Aomame dann schließlich ausgetreten. Dazu musste es erheblicher Entschlossenheit bedurft haben. Aomame war in der Sekte aufgewachsen. Ihre Glaubenssätze hatten sie bis ins Innerste durchdrungen. Sie hinter sich zu lassen war nicht so leicht, wie die Kleidung zu wechseln. Es bedeutete auch, dass sie sich von ihren Eltern lossagen musste. Die Familie war extrem gläubig. Ausgeschlossen, dass sie den Austritt der Tochter widerspruchslos hingenommen hatte.
    Was war geschehen, als Aomame elf Jahre alt gewesen war? Was hatte sie zu ihrem Entschluss getrieben?
    Die bewusste städtische Grundschule von Ichikawa in der Präfektur Chiba, dachte Ushikawa. Er sprach den Namen laut aus. Was hatte sich dort ereignet? Zweifellos war dort etwas geschehen … Ushikawa schluckte. Den Namen dieser Schule hatte er doch schon einmal gehört.
    Aber wo nur? Ushikawa hatte keine Beziehung zu Chiba. Er war in Urawa in der Präfektur Saitama geboren und hatte seit seinem Studium in Tokio immer in einem der dreiundzwanzig Stadtbezirke gewohnt, abgesehen von der Zeit in Chuorinkan. In Chiba war er bisher kaum gewesen. Nur einmal zum Baden am Strand von Futtsu. Wo hatte er also den Namen dieser Grundschule in Ichikawa gehört?
    Lange wollte es ihm nicht einfallen. Er konzentrierte sich, indem er sich mit der flachen Hand geräuschvoll über den asymmetrischen Schädel rieb. Er grub in seinem Gedächtnis, als würde er in tiefstem Schlamm wühlen. Es lag nicht lange zurück, dass er den Namen gehört hatte. Es war gerade erst vor kurzem gewesen. Chiba … Ichikawa … Grundschule. Endlich bekam er das Ende eines Fädchens zu fassen.
    Tengo Kawana!, dachte Ushikawa. Das war es! Tengo stammte ebenfalls aus Ichikawa. Und er war bestimmt auf eine städtische Grundschule gegangen.
    Ushikawa nahm den Ordner über Tengo Kawana aus dem Aktenregal. Er enthielt das Material, das die Vorreiter vor einigen Monaten angefordert hatten. Ushikawa schlug den Teil über Tengos schulische Laufbahn auf. Sein dicker Zeigefinger glitt über das Papier und fand den Namen. Hatte er es sich doch gedacht! Masami Aomame war auf die gleiche Grundschule gegangen wie Tengo Kawana. Die beiden waren sogar im selben Jahr geboren. Ob sie wirklich in eine

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