1Q84: Buch 3
Wasserdrucks ihre Gestalt verloren.
Doch seit Aomame in ihrem Versteck lebte, träumte sie jede Nacht. Die Träume waren so deutlich und realistisch, dass sie, wenn sie daraus erwachte, eine Weile nicht unterscheiden konnte, ob sie sich in der Wirklichkeit befand oder noch in der Welt ihres Traums. Diese Erfahrung hatte Aomame noch nie gemacht. Sie schaute dann auf die Digitaluhr am Kopfende ihres Bettes. Es war 1 Uhr 15, 2 Uhr 37 oder 4 Uhr 07. Sie schloss die Augen, doch sie konnte nicht mehr so leicht einschlafen. Verbissen kämpften die beiden Welten in ihrem Bewusstsein. Als würden an der Mündung eines großen Flusses Meerwasser und einströmendes Süßwasser um den Vorrang streiten.
Nichts zu machen, dachte Aomame. Außerdem ist es fraglich, ob jemand, der in einer Welt mit zwei Monden lebt, selbst real ist. Ist es ein Wunder, dass ich, wenn ich in dieser Welt einschlafe und träume, nicht mehr weiß, was Traum und was Wirklichkeit ist? Zu allem Überfluss habe ich mit eigenen Händen mehrere Männer getötet, werde von Fanatikern gejagt und muss mich verstecken. Nervosität und Angst sind da ganz natürlich. An meinen Händen haftet noch immer die Erinnerung daran, wie es sich anfühlt, jemanden zu töten. Vielleicht werde ich nie wieder eine Nacht ruhig schlafen. Das ist die Verantwortung, die ich zu tragen habe, der Preis, den ich zahlen muss.
Ihre Träume zerfielen in drei Kategorien. Zumindest jene, an die sie sich erinnern konnte.
Erstens der Traum von dem dunklen Zimmer, in dem unaufhörlich der Donner grollt, ohne dass es jemals blitzt. Wie in jener Nacht, als sie den Leader getötet hatte. In dem Zimmer ist etwas. Aomame liegt nackt auf dem Bett, und etwas belauert sie. Eine langsame, vorsichtige Bewegung. Der Teppich ist dick, die Luft schwer und stickig. Die Fensterscheiben erzittern unter dem heftigen Donner. Aomame hat Angst. Sie weiß nicht, was dort ist. Vielleicht ein Mensch. Vielleicht ein Tier. Vielleicht weder-noch. Doch bald verlässt das Etwas den Raum. Nicht durch die Tür. Auch nicht durch das Fenster. Dennoch schwindet seine Präsenz und ist bald ganz verschwunden. Im Zimmer ist niemand mehr außer ihr.
Aomame tastet nach der Lampe am Kopfende und schaltet sie ein. Sie steigt nackt aus dem Bett und sucht das Zimmer ab. In der Wand gegenüber dem Bett ist ein Loch. Ein Loch, durch das ein Mensch gerade so hindurchschlüpfen könnte. Doch es hat keinen festen Umriss, sondern ändert beständig seine Form. Zittert, wandert, wird größer oder kleiner. Es scheint lebendig. Das Etwas ist durch das Loch hinausgelangt. Aomame späht hinein. Offenbar führt es irgendwohin. Aber zu sehen ist nur Dunkelheit. Eine so dichte Finsternis, dass sie sie fast mit den Händen hätte greifen und herausziehen können. Aomame empfindet Neugier und zugleich Furcht. Ihr Herzschlag klingt trocken und weit entfernt. Hier endet der Traum.
In dem zweiten Traum steht sie am Rand der Stadtautobahn. Auch in ihm ist sie nackt. Die Autos stecken im Stau fest, die Menschen darin starren sie unverhohlen an. Es sind hauptsächlich Männer, doch auch ein paar Frauen sind dabei. Sie schauen auf Aomames flache Brüste und ihr seltsam wucherndes Schamhaar, scheinen abschätzig die Einzelheiten zu kommentieren. Einige runzeln die Brauen, andere lächeln geringschätzig oder gähnen. Oder glotzen sie ausdruckslos an. Aomame hätte gern etwas, um ihre Blöße zu bedecken. Ein Fetzen Stoff, selbst eine Zeitung würde genügen. Aber es ist nirgendwo etwas Geeignetes zu entdecken. Hinzu kommt, dass sie (aus einem ihr unbekannten Grund) ihre Hände nicht frei bewegen kann. Hin und wieder kommt ein Windstoß, reizt ihre Brustwarzen und zaust ihr Schamhaar.
Zu allem Überfluss setzt auch noch ihre Periode ein. Ihr Rücken fühlt sich schwer und matt, ihr Unterleib heiß an. Was soll sie tun, wenn sie jetzt vor allen Leuten zu bluten anfängt?
In diesem Moment öffnet sich die Fahrertür eines silberfarbenen Mercedes-Coupés, und eine gepflegte Dame mittleren Alters steigt aus. Sie trägt helle hochhackige Schuhe, eine Sonnenbrille und silberne Ohrringe. Sie ist schlank und hat in etwa die gleiche Statur wie Aomame. Sie schlängelt sich durch den Stau, zieht ihren Mantel aus und hilft Aomame hinein. Es ist ein knielanger, zartgelber Frühjahrsmantel. Leicht wie eine Eierschale. Er ist einfach geschnitten, sieht aber teuer aus. Er passt Aomame wie angegossen. Die Dame knöpft ihn ihr bis obenhin zu. »Ich weiß nicht, wann
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