1Q84: Buch 3
Mordplan schmieden, seine Identität aufgeben oder im Fall der alten Dame seine gesellschaftliche Stellung in Gefahr bringen musste?
Wie dem auch sei, zu dem Mord am Leader war es weder aufgrund einer spontanen Eingebung, noch im Affekt gekommen. Dahinter stand ein systematischer Plan, der sich aus einem glasklaren Motiv und unerschütterlicher Entschlossenheit zusammensetzte und in dessen Vorbereitungen man eine Menge Zeit und Geld investiert hatte.
Leider hatte Ushikawa nicht einen konkreten Beweis in der Hand, der seine Vermutungen gestützt hätte. Was er hatte, waren nicht mehr als ein paar Indizien, die sich auf Hypothesen gründeten. Platzhalter, die sich ganz leicht mit Ockhams Rasiermesser abtrennen ließen. In diesem Stadium konnte er auch den Vorreitern nicht Bericht erstatten. Aber Ushikawa wusste , dass es sich so verhielt. Er roch es, er spürte den Widerstand. Alle Faktoren wiesen in die eine Richtung. Die alte Dame hatte Aomame dazu angestiftet, den Leader zu töten, und ihr danach zur Flucht an einen sicheren Ort verholfen. Ihr Hauptmotiv stand mit häuslicher Gewalt in Zusammenhang. Sämtliche von der Fledermaus gesammelten Informationen stützten indirekt seine Hypothese.
Das Material über die Zeugen zu sichten nahm viel Zeit in Anspruch. Was allerdings weniger an der Menge lag als daran, dass Ushikawa so gut wie nichts davon verwerten konnte. Das meiste waren mit Zahlen gespickte Berichte, aus denen hervorging, wie lange Aomames Familie bereits bei den Zeugen aktiv war. Ihnen war auch zu entnehmen, dass Aomames Angehörige aufrechte und hingebungsvolle Gläubige waren, die ihr Leben hauptsächlich der Verbreitung der Lehre widmeten. Aomames Eltern lebten gegenwärtig in Ichikawa in der Präfektur Chiba. Sie waren in fünfunddreißig Jahren zweimal umgezogen, beide Male innerhalb von Ichikawa. Aomames Vater, Takayuki (58), war bei einer Maschinenbaufirma beschäftigt, Keiko, ihre Mutter (56), war nicht berufstätig. Ihr Sohn Keiichi (34) hatte, nachdem er eine öffentliche Oberschule in Ichikawa absolviert hatte, in einer kleinen Druckerei in der Tokioter Innenstadt gearbeitet. Nach drei Jahren hatte er dort aufgehört und war nun offenbar im Hauptquartier der Gemeinschaft der Zeugen in Odawara beschäftigt. Auch dort arbeitete er in der Druckerei, in der die Broschüren der Sekte produziert wurden, und war inzwischen in die Leitung aufgestiegen. Vor fünf Jahren hatte er eine Zeugin geheiratet. Das Ehepaar hatte zwei Kinder und lebte in einer Mietwohnung in Odawara. Die Aufzeichnungen über seine Schwester Masami Aomame endeten, als das Mädchen elf war und die Sekte verlassen hatte. Wenn jemand austrat, verloren die Zeugen offenbar jedes Interesse an ihm. Für sie war Masami mit elf Jahren gestorben. Was später aus ihr geworden war oder ob sie überhaupt noch lebte, wurde mit keinem Wort erwähnt.
Ushikawa überlegte, ob er sich an ihre Eltern oder den älteren Bruder wenden und nach ihr fragen sollte. Vielleicht könnte er von ihnen einen Hinweis bekommen. Doch soweit er dem Material entnehmen konnte, würden sie ihm wahrscheinlich keine Antwort geben. Die Familie Aomame bestand – in Ushikawas Augen gesehen – aus engstirnigen Menschen, die ein engstirniges Leben führten und nicht daran zweifelten, dass sie mit ihrer Engstirnigkeit in den Himmel kommen würden. Wer aus ihrer Gemeinschaft austrat, schlug einen falschen, sündigen Weg ein und wurde – selbst wenn es sich um ein Familienmitglied handelte – ausgestoßen.
War Aomame in ihrer Kindheit häuslicher Gewalt ausgesetzt gewesen? Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Und selbst wenn, so hatten die Eltern dies nicht zwangsläufig als häusliche Gewalt betrachtet. Ushikawa wusste, dass die Zeugen ihre Kinder sehr streng behandelten. Körperliche Züchtigung gehörte meist dazu.
Doch konnten Kindheitserfahrungen wie diese derart tiefe Wunden hinterlassen, dass sie einen Menschen im Erwachsenenalter dazu brachten, jemanden zu töten? Natürlich war so etwas nicht ausgeschlossen, aber wahrscheinlich eine große Ausnahme. Einen Menschen vorsätzlich zu ermorden war ein schwieriges Unterfangen. Es war nicht nur gefährlich, sondern auch mit einer ungeheueren seelischen Belastung verbunden. Wurde der Täter gefasst, erwartete ihn eine lange Haftstrafe. Man brauchte schon ein sehr starkes Motiv, um all das in Kauf zu nehmen.
Sicherheitshalber nahm Ushikawa sich die Dokumente bis zu Masami Aomames elftem Lebensjahr noch einmal
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