1Q84: Buch 3
Klasse gegangen waren, musste er erst noch herausfinden. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass die beiden sich kannten, war groß.
Ushikawa steckte sich eine Seven Stars zwischen die Lippen und zündete sie mit seinem Feuerzeug an. Gewisse Dinge begannen sich zusammenzufügen. Zwei Punkte ließen sich mit einer Linie verbinden. Noch wusste Ushikawa nicht, welches Bild sich daraus entwickeln würde. Aber eine Struktur wurde allmählich erkennbar.
Hörst du meine Schritte, Aomame? Wahrscheinlich nicht, denn ich bewege mich so leise wie möglich. Aber ich nähere mich dir Schritt für Schritt. Ich bin eine langsame Schildkröte, aber ich krieche unaufhaltsam vorwärts. Es sieht nur aus, als bliebe ich hinter dem Hasen zurück. Viel Spaß beim Warten.
Ushikawa lehnte sich in seinem Stuhl zurück, schaute zur Decke und atmete langsam den Rauch aus.
Kapitel 8
Aomame
Eine gar nicht so üble Tür
Zwei Wochen lang ließ sich, abgesehen vom Lieferdienst, niemand blicken. Der Mann, der sich als Kassierer von NHK ausgegeben hatte, hatte gedroht, »unter allen Umständen« wiederzukommen. Zumindest für Aomame hatte es geklungen, als habe er die feste Absicht, die Drohung wahrzumachen. Aber seither hatte es nicht mehr geklopft. Vielleicht war der Mann mit einer anderen Route beschäftigt.
Oberflächlich betrachtet waren es stille, friedvolle Tage. Nichts geschah, niemand kam vorbei, auch das Telefon läutete nicht. Tamaru rief aus Sicherheitsgründen möglichst selten an. Aomame ließ die Vorhänge zugezogen und verhielt sich ruhig und unauffällig, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Selbst nach Sonnenuntergang schaltete sie nur ein Minimum an Beleuchtung ein.
Sie trainierte geräuschlos, aber angestrengt mit großen Gewichten, wischte täglich die Böden und ließ sich viel Zeit bei der Zubereitung ihrer Mahlzeiten. Sie lernte Spanisch mit Hilfe von Sprachkassetten (die Tamaru auf ihren Wunsch einer Lieferung beigelegt hatte) und übte laut. Die Sprechmuskeln erschlafften, wenn man sie zu lange nicht benutzte. Also musste sie ihren Mund bewusst bewegen, und dazu waren die fremdsprachlichen Übungen sehr nützlich. Schon früher hatte Aomame romantische Vorstellungen von Lateinamerika gehegt. Hätte sie ihr Ziel frei wählen dürfen, dann hätte sie sich für ein kleines lateinamerikanisches Land entschieden. Costa Rica zum Beispiel. Sie würde eine kleine Villa am Meer mieten und ihr Leben mit Schwimmen und Lesen verbringen. Von dem Bargeld, das sie in die Tasche gepackt hatte, würde sie, wenn sie sparsam war, etwa zehn Jahre leben können. Wahrscheinlich wäre auch niemand imstande, sie bis nach Costa Rica zu verfolgen.
Während sie sich in spanischer Konversation übte, stellte Aomame sich ihr geruhsames Leben an der Küste von Costa Rica vor. Würde Tengo dazugehören? Sie schloss die Augen und malte sich aus, wie Tengo und sie am Karibischen Meer in der Sonne lagen. Sie trug einen knappen schwarzen Bikini und eine Sonnenbrille und hielt Tengos Hand. Aber die Szene war nicht greifbar genug, um ihr Herz in Aufruhr zu versetzen. Sie mutete an wie ein Foto aus irgendeinem Reiseprospekt.
Wenn ihr nichts Besseres einfiel, reinigte sie die Heckler & Koch. Sie zerlegte sie nach dem Handbuch in ihre Einzelteile, die sie anschließend mit einem Lappen und einer Bürste putzte, ölte und wieder zusammensetzte. Sie vergewisserte sich, dass alles reibungslos funktionierte. Aomame war geübt in dieser Tätigkeit und empfand die Waffe inzwischen fast als einen Teil ihres Körpers.
In der Regel ging sie gegen halb elf zu Bett, las ein paar Seiten und schlief. Nie hatte sie Einschlafschwierigkeiten. Während sie mit den Augen den gedruckten Zeichen folgte, überkam sie eine natürliche Schläfrigkeit. Sie löschte die Lampe neben dem Bett, legte den Kopf auf das Kissen und schloss die Lider.
Früher hatte sie normalerweise immer durchgeschlafen und so gut wie nie etwas geträumt. Und wenn doch, dann konnte sie sich beim Aufwachen kaum noch daran erinnern. Bisweilen hafteten noch Fetzen eines Traumes an den Rändern ihres Bewusstseins, aber wovon er gehandelt hatte, konnte sie nicht mehr rekonstruieren. Was blieb, waren nur winzige unzusammenhängende Bruchstücke. Sie hatte einen sehr tiefen Schlaf, und ihre Träume bewegten sich ebenfalls in der Tiefe. Wie Fische, die in der Tiefsee leben, gelangten ihre Träume so gut wie nie an die Oberfläche. Und wenn es doch einmal geschah, dann hatten sie wegen des unterschiedlichen
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