2 ½ Punkte Hoffnung
stand auf. »Es gehört sehr viel Mut dazu, vor seinesgleichen zu sprechen, also hat Hope unseren Respekt und unsere Aufmerksamkeit verdient.« Das Getuschel verstummte, alle setzten sich, und ich ging langsam nach vorn in die Klasse und packte mein Buch und meine Notizen aus.
»Hallo«, sagte ich mit zitternder Stimme. »Ich bin Anne Frank. Ich wurde am 12. Juni 1929 geboren. Am Morgen vom Montag, dem 6. Juli 1942, bin ich mit meinen Eltern und meiner Schwester untergetaucht. Wir haben für immer unser Haus verlassen, weil die deutschen Nazis Juden wie uns zusammentrieben und sie in Konzentrations- und Vernichtungslager brachten, wo die meisten von uns an harter Arbeit oder Seuchen starben oder in Gaskammern ermordet wurden. Wir lebten mit vier weiteren Juden zwei Jahre im ›Versteck im Hinterhaus‹ – einigen Kammern, die hinter einem Bücherregal im Bürohaus meines Vaters versteckt waren.«
Ich warf einen Blick auf meine Notizen und räusperte mich. »Wir mussten uns sehr viel Mühe geben, um nicht entdeckt zu werden, wir durften zum Beispiel nicht sprechen und mussten überall auf Zehenspitzen gehen. Manchmal durften wir nicht einmal die Toilette benutzen.«
Meine Stimme wurde ruhiger und das Sprechen fiel mir leichter. »Ich hatte fast die gesamte Zeit Angst. Angst davor, entdeckt zu werden, Angst vor den Bomben, Angst um unsere Freunde, die in die Arbeitslager gebracht worden waren, wo ihnen die Köpfe rasiert wurden, damit sie keine Läuse bekamen, und wo ihnen Registriernummern auf die Arme tätowiert wurden.
Wir kamen eigentlich gar nicht miteinander aus, weil wir immer so dicht beieinander waren. Wir stritten uns über Albernheiten, wie die beste Art, Kartoffeln zu schälen. Meine Mutter war gemein zu mir; sie sagte Dinge, die mich verletzten. Bald ging mir auf, dass ich mich nur auf mich selbst verlassen konnte.« Ich warf einen Blick zu Mr. Hudson hinüber, der hinten in der Klasse an der Wand lehnte. »Ich beschloss, stark zu sein. Die Nazis hatten meine Würde gestohlen, und dass ich mich vor ihnen verstecken musste, stahl mir die wenigen Freiheiten, die ich noch hatte – zu sprechen und zu lachen, wann ich wollte, aus dem Fenster zu schauen und frische Luft zu atmen, eine anständige Mahlzeit zu mir zu nehmen. Alles, was mir blieb, war hier drinnen.« Ich zeigte auf meinen Kopf. »Ich konnte denken, was ich wollte, und niemand wusste es. Und niemand stahl es. Ich schrieb vieles auf.« Ich hielt Annes Tagebuch hoch, dann wandte ich mich einem meiner Notizzettel zu.
»Das hier habe ich am Donnerstag, dem 19. November 1942, geschrieben.« Meine Augen huschten durch die Klasse und es überraschte mich, wie aufmerksam alle zuhörten.
„Ich fühle mich schlecht, weil ich in einem warmen Bett liege, während meine liebsten Freundinnen irgendwo draußen niedergeworfen werden oder zusammenbrechen. Ich bekomme solche Angst, wenn ich an alle denke, mit denen ich mich draußen immer so eng verbunden gefühlt habe und die nun den Händen der brutalsten Henker ausgeliefert worden sind, die es jemals gegeben hat. Und das alles, weil sie Juden sind.“
»Anne Frank versteckte sich zwei Jahre, ehe sie entdeckt und in ein Konzentrationslager verschleppt wurde. Sie starbsieben Monate darauf an einer Krankheit namens Typhus. Das ist über sechzig Jahre her, aber wir erinnern uns an sie, weil sie das alles gesagt hat.« Ich legte das Buch und meine Notizen auf einen Tisch.
»Das Leben ist manchmal unfair und es ist schwer, darauf zu warten, dass etwas Gutes passiert, aber Anne Frank hatte Mut. Sie dachte sich viele kleine Spiele aus, um das Gefühl zu haben, dass sie die Lage im Griff hatte – zum Beispiel tat sie so, als ob etwas köstlich wäre, wo es doch in Wirklichkeit widerlich war. Ich wünschte, sie wäre heute noch am Leben und könnte erleben, wie wichtig sie für uns ist.«
Ich griff hinter meinen Kopf, öffnete den Schal und ließ ihn herunterfallen.
Die ganze Klasse keuchte auf.
»Ich habe ihr die Schere gegeben«, sagte Noelle laut.
Alle redeten gleichzeitig los.
»Ruhe!« Mr. Hudson trat vor. »Ich glaube nicht, dass Hope schon fertig ist.«
Ich wartete, bis alle sich wieder gesetzt hatten.
»Ich habe mir die Haare zur Erinnerung an Anne Frank und die sechs Millionen Opfer des Holocaust abgeschnitten.«
Alle fingen an zu klatschen.
»Gut gemacht«, flüsterte Brody, als ich an seinem Tisch vorbeikam.
KAPITEL 28
Die letzte Verbindung
Ich stellte den Rosenstrauch auf den Küchentisch.
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