2 ½ Punkte Hoffnung
Dann trat ich einen Schritt zurück und sah mir die glatten Knospen an, die auf den dornigen Zweigen saßen und bald aufbrechen würden.
»Dass wir an Rosen glauben, lässt sie blühen«, hatte Mr. Hudson gesagt, als er mir die Bonuspunkte-Überraschung überreichte. »Ein französisches Sprichwort, das davon handelt, dass wir einen Traum haben, ein Ziel, und dass wir ausdauernd und mutig sein müssen, um es zu erreichen.« Als er mir die Rosen gegeben hatte, fügte er hinzu: »Die Idee habe ich von deinem Konzentrationslagerbild. Ich hoffe, du wirst dich gut darum kümmern, denn auch das wird diesen Strauch zum Blühen bringen.« Brody hatte seinen Strauch für sein Referat über illegalen Widerstand bekommen – Menschen, die heimlich versucht hatten, die Nazis zu bekämpfen. Andere hatten sich mit Landkarten, wissenschaftlichen Experimenten und besonderen Ausstellungen um Bonuspunkte beworben, aber es hatte keinen weiteren Auftritt wie meinen gegeben.
Ich lehnte meinen Nachweis über die Bonuspunkte gegen den Blumentopf. Auf einer neun mal fünfzehn Zentimeter großen Karte stand: Im Gedenken an Anne Frank. Von Hope Elliot. A +
.
Es sah gut aus, nein, sogar phantastisch! Mom würde sich die Sache mit demSommerlager überlegen müssen, wenn sie erst die Rosen und meine umwerfende Note gesehen hätte. Dann fielen mir meine Haare ein und mein Herz wurde bleischwer. Ich fuhr mit den Fingern über die zibbeligen Enden und überlegte, ob Ruthie wohl retten könnte, was noch vorhanden war.
»Ich hätte nie den Mut dazu gehabt«, hatte Jessica nach meiner Vorführung gesagt. »Wirst du die auch färben?«
Fast hätte ich Nein gesagt, aber ich murmelte doch lieber ganz schnell: »Vielleicht.«
»Meine Mutter würde mir das nie erlauben«, meinte sie.
»Meiner ist es egal, und wenn ich es grün mit lila Streifen färbe.«
»Deine Mom ist ganz schön cool.«
Meine Schlafzimmertür öffnete sich und Mom lehnte am Türrahmen. »Was soll dieser Bauernmädchenlook?«
Ich berührte das rote Halstuch, das ich mir um die Haare gebunden hatte. »Einfach so.«
»Von wem ist der Rosenstrauch?« Sie schien guter Laune zu sein. Vermutlich, weil ich Hausarrest hatte.
»Von Mr. Hudson, als Ergänzung zu den Bonuspunkten. Du magst doch Rosen, oder?« Ich hielt den Atem an.
»Ich habe keine Zeit, auch nur einen anständigen Rasen anzulegen, von Rosensträuchern ganz zu schweigen.« Sie zog die Schuhe aus. »Willst du ihn nicht den Nachbarn geben?«
»Ich soll mich selbst darum kümmern.«
Moms Augenbrauen jagten hoch, als ob sie mir jedes Recht absprächen, mich um
irgendetwas
zu kümmern. Alsob ich keine Ahnung hätte, wie man pflanzt, gießt, düngt. Vielleicht hatte sie recht. Vielleicht nicht.
Sie machte kehrt und verließ den Raum. Aus der Diele hörte ich: »Die Note – gute Arbeit.«
Gute Arbeit?
Mein Herz machte einen Sprung, aber mein Gehirn schaltete sich ein:
Nicht so aufgeregt, Herz. D. D. meint das vermutlich nicht ernst. Setz dich bloß keiner Enttäuschung aus.
Samstagmorgen. Das Telefon hatte vor neun Uhr schon fünfmal geklingelt, und jemand hatte an die Haustür geklopft. Ich hoffte, dass nicht alle Anrufe von Oma gewesen waren. Das würde Mom in richtig miese Laune versetzen.
Ich lag auf meinem Schrankbettchen und starrte von unten meine hängenden Kleider an, dann drehte ich mich um und bohrte meinen Kopf ins Kissen. Wieso hatte ich nur gedacht, Bonuspunkte und ein Rosenstrauch könnten Mom dazu bewegen, ihren Entschluss zu ändern? Vielleicht
war
ich hoffnungslos. Aber dann hörte ich Mr. Hudsons Stimme: »Du bist kein Opfer. Du hast Wahlmöglichkeiten.«
Richtig. Ich hatte Wahlmöglichkeiten. Genau wie der
Gute-Nacht-Mond- Hase
konnte ich die Decke oder die Wände oder meinen Kamm und meine Bürste anstarren. Tolle Möglichkeiten! Ich konnte mich entscheiden, nicht ins Sommerlager zu fahren.
Meine Gedanken verschwammen und ich schmiegte mich tiefer in mein Kissen mit dem Flanellbezug. Abermals mischten sich Mr. Hudsons Worte ein: »Du hast die Wahl, ob du stark sein oder aufgeben willst.«
Ich wollte stark sein – aber nicht wie Anne Frank, diesich so bemüht, gehofft hatte, alles würde besser werden, nur, um am Ende alles zu verlieren. Die Juden hätten wissen müssen, dass es nur immer schlimmer werden würde. Sie hätten beim ersten Anzeichen von Problemen fliehen müssen.
Ich seufzte. Ich kam mir vor wie das traurige Summen, das aus meinem Radio kam, wie die Sängerin, die ihren
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