20 - Im Reiche des silbernen Löwen I
länger!“
„Noch länger! Da sprichst du schon von der Ewigkeit, die du noch vor kaum einer Stunde leugnetest. Halte die Hand fest, welche sich dir heut geboten hat, um dich zu retten! Aber verlange ja nicht zu viel von ihr; stelle keine Bedingungen, denn Gott läßt nicht mit sich feilschen! Will er dir gnädig sein, so ist er es ohne Handel. Bete zu ihm, sooft du kannst, denn die Stufen des Gebetes sind es, auf denen er herniedersteigt!“
Es trat eine tiefe Stille ein, welche lange, lange währte. Die Palmenwedel flüsterten wieder; aber das klang jetzt nicht mehr wie Märchenklänge aus Tausendundeine Nacht, sondern wie ein süßes, liebe- und verheißungsvolles Mahnen: „Rufet, so werdet ihr mich finden; klopfet an, so wird euch aufgetan!“ Der Bimbaschi hatte sich wieder niedergesetzt und die Hände ineinander verschlungen. Jetzt trennte er sie, reichte mir die Rechte hin, um die meinige zu drücken, und sagte:
„Weißt du, was ich jetzt getan habe?“
„Ja. Du hast gebetet“, antwortete ich.
„Gebetet; du hast es erraten. Ich habe gebetet, aus eigenem Antrieb zum ersten, zum allererstenmal in meinem Leben gebetet! Wie oft habe ich die Beter ausgelacht oder gar bemitleidet, und nun fühle ich, daß ich es war, der Mitleid verdiente. Es ist mir, als ob ich lange, lange krank und schwach, zum Sterben krank, gelegen und eine Arznei von wunderbarer Kraft bekommen hätte, welche mir mit einem Male die verlorene Stärke und Gesundheit wiederbrachte. Seit dem Verlust meiner Familie bin ich kein Mensch gewesen; ich habe nicht gelebt; aber jetzt lebe ich, lebe wieder und sehe ein, daß Tausende, ja vielleicht Millionen dahinleben, ohne wirklich zu leben.“
„Ja, ein wirkliches Leben lebt nur der, welcher in Gott und seiner Liebe lebt. Dir war die Liebe gestorben, und an ihrer Stelle wucherten in dir der Groll, der Haß, die Rache empor. Du warfst die ganze Schuld an deinem verfehlten Dasein auf Gott, ohne zu bedenken, daß niemand schuld war als du selbst. In deiner hochmütigen Selbstgerechtigkeit hadertest du mit Gott und hieltest seine ewige, unwandelbare Gerechtigkeit für Ungerechtigkeit. Du allein warst es, der gefehlt hatte; aber es mangelte dir die Selbsterkenntnis, und so klagtest du nicht dich an, sondern den, von dem du zum Glück geführt worden wärest, wenn du seine Gebote geachtet hättest. Du glaubtest, er habe dich vernachlässigt, obgleich du des Glücks vielleicht würdiger seist als andere Menschen. Du hast dich gegen die von ihm bestätigte Obrigkeit empört und bist, wie du selbst eingestandest, als Aufrührer im Blut gewatet; du bist um nichtiger Vorteile willen zu einem andern Glauben übergetreten und hast dadurch die heilige Lehre Christi und die fromme Ehrfurcht vor allem, was über uns erhaben ist, verleugnet; dir stand die Liebe zu den Deinen höher als die erste Verpflichtung des Menschen, himmelan zu streben, und bis zum heutigen Tag hat dich nur der Kummer um dein irdisches Unglück und die Sehnsucht nach irdischem Wohlergehen beschäftigt, nicht aber der Gram um die Umnachtung deiner Seele und die Besorgnis um dein ewiges Heil. Du hast dich vor dem Strahl der Sonne versteckt und wunderst dich darüber, daß du frierst; du hast das Wasser des Lebens verschmäht und bist erzürnt darüber, daß du dürstest; du hast dir die Tore des Glücks verschlossen und balltest in kindischem Trotz und Unverstand die Faust gegen den Vater, der sie offen für dich hielt. Das alles, alles hast du getan, und noch viel, viel mehr hast du unterlassen; aber fragtest du dich etwa, was auf so schwere Begehungs- und Unterlassungssünden folgen muß? Nein! Du hast weit mehr verdient, als was dir geschehen ist. Gott brauchte gar nicht ungerecht zu sein, wie du ihn genannt hast, sondern nur gerecht, so säßest du jetzt entweder gar nicht oder als ein zehnmal unglückseligerer Mann hier vor meinen Augen. Du bist nicht imstande, einzusehen, wie barmherzig er trotz allem, worüber du klagst, gegen dich gewesen ist, mit welcher Langmut er gezögert hat, dir deine Schuld voll anzurechnen und welch eine unverdiente Gnade von ihm es für dich ist, daß er dir jetzt einen Lichtstrahl sendet, und zwar grad durch mich, gegen den du ihn verleugnet oder gar der Ungerechtigkeit beschuldigt hast.“
Als ich jetzt schwieg, zögerte er, zu antworten. Es waren schwere Anklagen, die ich ausgesprochen hatte, Anklagen, die ihn um so kräftiger treffen mußten, je weniger bisher von Selbsterkenntnis bei ihm die Rede
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