20 - Im Reiche des silbernen Löwen I
gezeichnet waren, mehr als gewöhnlicher Scharfsinn dazu, zu enträtseln, was jede einzelne vorstellen sollte; hatte man aber das entziffert, so ergab sich die Bedeutung ganz von selbst. Die Hauptsache dabei war, daß ich nichts fand, was auf die Absicht, uns zu betrügen, hätte schließen lassen.
To-kei-chun hatte sich niedergesetzt und wartete auf die Beurteilung seines Kunstwerks; ich gab ihm dieselbe mit den Worten:
„Ich bin mit diesem Totem zufrieden; es enthält alles, was ich wünsche. Wir werden den Häuptling der Comanchen auf sein Pferd binden und dann weiterreiten.“
„Wohin?“ fragte er.
„Wir folgen seinen Kriegern.“
„Weiß Old Shatterhand, wohin sie reiten?“
„Nach dem Makik-Natun. Vielleicht holen wir sie ein, ehe sie dort ankommen.“
„Du wirst sie nicht einholen, denn sie reiten sehr schnell.“
„Ich denke, daß sie sich zunächst nicht zu sehr beeilen werden, damit du sie einholen kannst.“
„Sie warten nicht auf mich; sie wissen, daß ich gern zurückbleibe und gern allein reite. Du wirst nicht eher als am Makik-Natun mit ihnen sprechen können.“
Die Offenheit, mit welcher er mir dies sagte, war zwar ungewöhnlich, aber ich hatte keinen Grund, sie für unwahr zu halten. Schaden konnte es uns nichts, wenn wir uns nach dieser Mitteilung richteten; darum sagte ich:
„So müssen wir uns beeilen. Ich will die gefangenen Bleichgesichter womöglich noch heute frei haben und wünsche darum, daß ich noch vor der Dunkelheit des Abends mit den Kriegern der Comanchen reden kann.“
Er ließ sich ohne allen Widerstand auf sein Pferd binden; dann suchten wir die Fährte seiner Leute auf, um ihr möglichst schnell zu folgen. Als wir sie erreichten, untersuchte ich sie und fand, daß die Indsmen allerdings ziemlich rasch geritten waren. Ihr Häuptling hatte also die Wahrheit gesagt.
Er ritt mit Perkins voran und ich mit Dschafar hinterdrein, weil ich ihn stets im Auge haben wollte.
Der Perser sprach über unser heutiges Erlebnis und über unsere Hoffnung, die Gefangenen zu erlösen. Dabei meinte er:
„Der Häuptling versteht das Englische; er hört, was wir hinter ihm sprechen; er braucht aber nicht zu wissen, was wir reden. Wollen wir uns nicht lieber einer andern Sprache bedienen?“
„Mir recht; aber welcher?“
„Da Ihr der Emir Kara Ben Nemsi Effendi seid, ist Euch das Arabische geläufig. Nehmen wir also dieses.“
„Warum nicht das Persische?“
„Versteht Ihr auch dieses?“
„Leidlich. Wenigstens denke ich, daß ich mich Euch verständlich machen kann.“
Wie erfreut war er, sich seiner Muttersprache bedienen zu können! Er wurde außerordentlich lebhaft, wie er sonst gar nicht zu sein schien, und sprach natürlich vorzugsweise von seinem Vaterland und den Verhältnissen desselben. Ich wartete darauf, daß er auch die seinigen in Erwähnung bringen werde; er tat es indessen nicht, schien aber doch eine Ahnung von dieser meiner Neu- oder Wißbegierde zu haben, denn er sagte im Lauf des Gesprächs:
„Du wirst erwarten, daß ich auch von mir spreche; aber was soll ich von mir hier in diesem Land sagen, wo ich fremd und gar nichts bin?“
Man hört, daß er mich mit dem vertraulichen orientalischen Du anredete; das war mir ganz recht; ich freute mich darüber, obgleich ich in der Heimat kein Freund desselben bin; ich habe nie mit irgend jemandem Brüderschaft gemacht. Als ich auf diese seine Worte nichts bemerkte, hielt er es für angezeigt, fortzufahren:
„Ich will dir aber mitteilen, daß ich unter dem Schutz unsers Herrschers stehe. Er ist ein Freund abendländischer Bildung und sendet zuweilen einige seiner jungen Untertanen nach dem Occidente, um sich dort Kenntnisse zu erwerben.“
„Natürlich sucht er sich da nur begabte Personen aus.“
„Kann Old Shatterhand auch Komplimente machen? Ich fand die Gnade, die Augen des Beherrschers auf mich gerichtet zu sehen, und wurde nach Stambul, Paris und London gesandt. Dort, in England, war ich längere Zeit. Vielleicht hast du gehört, daß der Schah vor kurzer Zeit in London war?“
„Ich habe in Zeitungen darüber gelesen.“
„Bei dieser seiner Anwesenheit in der Hauptstadt Englands erinnerte er sich meiner, und ich bekam den Befehl, vor seinem Angesicht zu erscheinen. Die Folge dieser Audienz war, daß ich die Weisung erhielt, auch die Vereinigten Staaten kennenzulernen. Als ich herüberkam, ahnte ich nicht, daß ich das Glück haben würde, hier den mutigen Kara Ben Nemsi kennenzulernen, von
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