20 - Im Reiche des silbernen Löwen I
schützte mich nicht! Nun, ich hatte trotzdem des Schutzes genug. Infolge der Aufforderung drängten sich seine Leute wieder näher an mich. Da nahm ich den Stutzen zur Hand und rief:
„Zurück von mir! Habt ihr nicht von diesem Zaubergewehr gehört, mit welchem ich ohne Aufhören schießen kann, ohne zu laden? Wer seine Hand nach einer Waffe oder gar nach mir selbst ausstreckt, der bekommt eine Kugel! Macht Platz! Ich will nicht fort, aber ich gehe dahin, wohin es mir gefällt!“
Ich spannte den Hahn des Stutzens, nahm das Repetiergewehr par pistolet in die rechte Hand, ließ meinen Schwarzschimmel, um mir Raum zu machen, mit ausschlagenden Hufen im Kreise springen und lenkte ihn dann nach dem Hintergrund, wo die Gefangenen lagen.
Ich wußte wohl, was ich tat, was ich riskieren durfte. Es gab wohl keinen unter den Comanchen, der nicht von diesem meinem ‚Zaubergewehr‘ gehört hatte. Ihr Aberglaube ließ ihnen den Stutzen als eine Waffe erscheinen, welcher gegenüber es keinen Widerstand gab. Sie sahen ihn schußfertig in meiner Hand und wichen zurück. Erst als ich durch ihren Haufen war, kamen sie hinter mir her, doch in für mich genügender Entfernung. Nur der Alte wagte sich näher und rief mir zu:
„Wo willst du hin? Zu den gefangenen Bleichgesichtern?“
„Ja.“
„Das darfst du nicht!“
„Wer will es mir untersagen?“
„Ich!“
„Pshaw!“
Ich antwortete nur dieses eine Wort und ritt weiter. Da kam er noch näher, streckte die Hand nach meinem Zügel aus und schrie:
„Nicht weiter, sonst nehme ich dich gefangen!“
„Versuche es! Wer wagt es noch von euch, Old Shatterhand etwas zu verbieten, was ihm zu tun gefällt?“
Ich hielt mein Pferd an und richtete den Lauf des Stutzens auf den Alten.
„Uff, uff!“ erscholl da sein Angstruf, mit welchem er im Haufen der Seinen verschwand. Ein anderer an meiner Stelle wäre von den Comanchen vom Pferd gerissen und sofort getötet oder wenigstens gefesselt worden; mir geschah dies nicht. Warum? Das hatte mehrere Gründe. Erstens wußten sie nun doch, daß ich von ihrem Häuptling gesandt worden war. Zweitens wirkte die Furcht vor meinem Gewehr. Drittens stand ich überhaupt bei ihnen in einem Ruf, der mir ein solches Wagnis ermöglichte. Was bei einem andern Tollkühnheit hätte genannt werden müssen, war bei mir nur einfache Berechnung und Ausnützung dieser Umstände. Und endlich viertens wußte ich, daß mein Auftreten geradezu verblüffend wirken mußte. Ich zeigte, um den richtigen Ausdruck zu gebrauchen, eine Frechheit, die ihnen aber als etwas ganz anderes erschien. Das, was ich tat, war in ihren Augen nicht das Verhalten eines verwegenen Menschen, sondern die Handlung einer mit einer ‚höheren Medizin‘ ausgestatteten und vom ‚großen Manitou‘ bevorzugten Persönlichkeit.
Ich lenkte mein Pferd wieder nach dem Hintergrund, von woher mir der laute Ruf entgegenscholl:
„Old Shatterhand! Gott sei Dank! Euch hier zu sehen, ist das höchste der Gefühle!“
Ich hatte für diese Worte Jim Snuffles keine Erwiderung, weil ich die Roten nicht noch mehr aufregen wollte, hielt in der Nähe der Weißen an der Felswand an, stieg vom Pferd und setzte mich so nieder, daß ich an der Wand lehnte und den Rücken also frei hatte. Die Indianer bildeten einen Halbkreis um mich, doch in respektvoller Entfernung, weil ich den Stutzen noch immer schußfertig hielt. Ich befand mich, wenigstens einstweilen, in vollständiger Sicherheit.
Der vorhin eingeschüchterte Alte ließ sich jetzt wieder sehen; ich winkte ihm zu und forderte ihn auf:
„Mein roter Bruder mag nun das Totem lesen! Er wird aus demselben ersehen, daß ich gekommen bin, To-kei-chun, den Häuptling der Comanchen, vom Tod zu erretten.“
„Vom Tod?“ fragte er schnell und erschrocken. „Befindet er sich in Gefahr?“
„In einer sehr großen. Wenn ich nicht von jetzt an in der Zeit, welche wir Weißen eine halbe Stunde nennen, zu ihm zurückgekehrt bin, muß er sterben.“
„Uff – uff – uff – uff!“ ertönte es erschrocken im Halbkreis.
Der Alte setzte sich mir grad gegenüber nieder und nahm die Blätter vor, um sie zu entziffern. Ich betrachtete dabei sein Gesicht aufmerksamer, als ich es bisher getan hatte; er war wohl ein kluger, vielleicht gar ein pfiffiger Kerl. Schon nach kurzer Zeit hob er schnell den Kopf empor und warf einen langen, stechenden Blick auf mich. Er hatte die erste Figurengruppe enträtselt und wußte nun, daß sein Häuptling sich in
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