20.000 Meilen unter den Meeren
zu haben. Und noch etwas war merkwürdig beim Gang über diese Ebene: Wenn meine Füße auftraten, zerbrachen Dinge, die ich aber nicht näher bestimmen konnte, ich hörte das Geräusch nicht, aber ich hatte die Vorstellung, als knisterten die morschen Knochen eines Gebeinfeldes unter dem schweren Tritt meiner Bleistiefel. Wo waren wir?
Der rötliche Flammenschein am Horizont war ständig größer geworden. Ich konnte mir nicht vorstellen, um was für ein Naturphänomen es sich dabei handeln sollte – wenn die Erscheinung überhaupt der Natur entstammte. Vielleicht hatte menschliches Genie dieses Schauspiel erzeugt? Freunde des Kapitäns, denen er einen Besuch abstattete? Lag dort hinten vielleicht eine ganze Kolonie von Landesflüchtigen, die hier am Grund des Ozeans ihre Unabhängigkeit suchten? Eine unterseeische Stadt der Verfolgten und Verfemten unserer Erde?
Mein Kopf war durch all die Erlebnisse überspannt, an denen Nemo mich schon hatte teilnehmen lassen, und je heller die Landschaft mit ihren regelmäßigen Gesteinslagen unter der Lichtstrahlung wurde, desto riesiger und abenteuerlicher wurden die Ideen, die ich mir vom Ziel unserer Reise entwarf: In Gesellschaft dieses Menschen Nemo, der schon fast kein Mensch mehr war, sollte mich nichts mehr wundern.
Ich sah bald, dass die Lichtquelle hinter dem Gipfel eines 250 m hohen Berges lag, der in einiger Entfernung vor uns aufstieg. Was die Ebene, die wir durchschritten, erleuchtete, war nur der Widerschein des Lichtspiels in den Wasserschichten. Nemo ging völlig sicher durch die Gänge, welche die Steinschichten am Boden vorschrieben, er kannte diese dunklen Pfade, er führte mich durch diese Unterwelt; ich folgte ihm und bewunderte ihn, wie er vor mir herschritt: die schwarze Gestalt vom hellen Untergrund scharf abgehoben, ein Genius des Meeres.
Als ich um ein Uhr nachts zu des Hügels Fuß gekommen war, der als ein Abschluss aus dem Boden trat, schaute ich empor und sah des Berges Grat bereits im Strahlenkleid der unbekannten Lichtquelle glühen. Um dort hinaufzukommen, mussten wir uns durch das Dickicht eines unwegsamen »Gehölzes« schlagen – ja: Gehölz, denn die Bäume, die hier am Hange standen, waren Bäume der Oberwelt, vom Wasser mineralisiert, blatt- und saftlos geworden, und einzelne riesenhafte Fichten überragten sie. Es war ein Kohlevorrat, um es so zu sagen, der mit den Wurzeln noch im Boden steckte, ein versunkener Wald. Die Pfade waren kaum mehr aufzufinden, so dicht wucherten Tang und Meergras über ihnen und in dem Grün wimmelte es von Krebsen und Langusten. Wir mussten bald regelrecht zu klettern beginnen und ich klomm die Felsen hinan, setzte über umgesunkene Baumstämme hinweg, zerriss die dicken Algentaue, die sich zwischen den Bäumen spannten, und scheuchte Schwärme von Fischen auf. Je näher wir dem geheimnisvollen Gipfel kamen, desto stärker wurde meine Neugier, die mich vorantrieb, desto geringer meine Ermüdung.
Wie kann ich jemals das Bild beschreiben, das sich uns bot? Der versteinerte Wald war vom roten Widerschein des Lichtes durchglüht und an den Spitzen der einzeln aufragenden Bäume spielte fahles, hell in den Wasserschichten reflektiertes Licht. Der Boden, über den wir bergan stiegen, war von Schluchten zerrissen, über denen beängstigende Schlagschatten lagen. Fortwährend lösten sich Gesteinsblöcke unter unseren Tritten und rutschten mit dumpfem Getöse in die unergründlichen Schächte seitlich unseres Weges. Hätte ich Zeit gehabt, mich zu besinnen, dann hätte mich Schaudern vor diesem Aufstieg zurückgehalten, aber jetzt folgte ich mit den Armen rudernd, hüpfend, gleitend, halb schwimmend meinem Führer, der über alle Abgründe sicher hinwegsetzte.
Zwei Stunden nach unserem Aufbruch von der Nautilus hatten wir die Baumgrenze überschritten. Jetzt trennten uns nur noch 30 m von der Spitze des Berges. Die Felsmasse, über die wir aufwärts kletterten, war von Grotten, Höhlen und Löchern förmlich durchsiebt und aus jedem dieser dunklen Löcher starrten Augen von grässlichen Schalentieren, 1000 leuchtende Punkte glänzten in dem Schwarz, kolossale Hummer reckten die Fühlhörner, Krabben lagen wie Kanonen auf der Lafette und Polypen streckten uns ihre verknäulten Fangarme in den Weg. Nemo achtete auf all dieses Leben unter Wasser nicht, er setzte unbeirrt seinen Weg fort. Wir hatten jetzt eine Hochfläche erreicht, die sich ein weites Stück in der Richtung erstreckte, die wir verfolgten. Die
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