20.000 Meilen unter den Meeren
wahre Spitze des Berges rückte damit wieder an den Horizont. Diese Hochfläche war mit unverkennbaren Ruinen bedeckt! Diese Steintrümmer, bei deren Anblick ich vor Erstaunen stehen blieb, waren von Menschenhand geordnet gewesen, zusammengebrochene Tempel und Schlösser konnte ich aus den Resten erkennen, all das überdeckt von einem dicken blühenden Algen- und Zoophytenteppich. Was hatte das zu bedeuten? Wer waren die Bewohner dieser toten Stadt? War hier eine ganze Insel, vielleicht ein ganzer Erdteil versunken? Ich stolperte fassungslos in die Anlagen der Ruinenstadt unter Wasser hinein, ich wollte schauen, wollte mich bücken, berühren, um zu begreifen, wohin Kapitän Nemo mich geführt hatte. Er aber nahm mich am Arm, stieß mich weiter.
Noch weiter! Noch mehr!? Er strebte dem Bergesgipfel zu, ich folgte ihm, aber schon erschöpft vom bisherigen Aufstieg, nicht mehr bei Sinnen durch den Anblick, der sich mir hier bot. Eine gute Weile später hatten wir diese letzte Spitze über dem Hochplateau erklommen und sahen nun, was für ein Licht uns leuchtete: Hinter ihr fiel der Berg steil ab bis in die dunkelsten Tiefen des Atlantischen Ozeans. Und knapp 20 m unter dem Kamm, auf dem wir standen, öffnete sich der Schlund eines unterseeischen Kraters. Dieser Berg war ein Vulkan, der immer noch glühende Lavamassen aus seinem Innern schleuderte und das Meer meilenweit ringsum erleuchtete. Mit der Lava, die nicht brannte, weil dazu der Sauerstoff fehlte, die aber glühend das Wasser um den Krater zum Brodeln und Zischen brachte, traten Gesteins- und Schlackenmassen aus dem Leib des Berges aus und flossen an dieser Unterwasserfackel langsam hinab bis auf den Meeresgrund. Und auf den Hängen dieses Vulkans, auf den flacher fallenden Terrassen breiteten sich unter meinen Augen die Trümmer der Hauptteile dieser versunkenen Stadt, deren Ränder wir bereits vorhin überschritten hatten: eingestürzte Dächer, verfallene Tempel, aufgebrochene Gewölbe, umgestürzte Säulen von toskanischem Schnitt, Aquäduktruinen, Parthenonspuren, Reste von Kaimauern eines Hafens, zerfallene Wälle, verödete Straßen, ein ganzes versunkenes Pompeji.
Wohin hatte Nemo mich geführt? Er bückte sich, nahm einen Stein auf und schrieb kaum leserlich an eine dunkle Basaltwand :
ATLANTIS.
Und mir fuhr’s wie ein Blitzstrahl durch den Kopf: Das also war der Kontinent des Poseidon, von dem die Alten erzählten und an dessen Existenz keiner der neueren Gelehrten glauben will. Alles war so, wie es Kritias erzählt: An der Seeküste, gegen die Mitte der ganzen Insel, lag eine Ebene, die schöner und fruchtbarer als irgendeine gewesen sein soll … in der Nähe dieser Ebene aber, wiederum nach der Mitte zu, befand sich ein allwärts niedriger Berg; auf diesem wohnte ein Mann namens Euenor …
Das Volk, dessen Knochen ich bei unserem Anmarsch zertreten hatte, war einer der ersten Kriegsgegner des alten Griechenland gewesen, als die Atlantiden ihre bis Ägypten reichende Herrschaft auch auf Griechenland ausdehnen wollten. Sie mussten vor dem Widerstand der Hellenen weichen. Dann kamen für das Reich die Jahre des Verfalls, über die es in Platons Erzählung heißt: Viele Menschenalter hindurch, solange noch die göttliche Abkunft bei ihnen vorhielt, waren sie den Gesetzen gehorsam und freundlich gegen das verwandte Göttliche gesinnt; denn ihre Gedanken waren wahr und durchaus großherzig, indem sie bei allen sie betreffenden Begegnissen sowie gegeneinander Weisheit gepaart mit Milde bewiesen. So setzten sie auf jeden Besitz, den der Tugend ausgenommen, geringen Wert und ertrugen leicht, jedoch als eine Bürde die Fülle des Goldes und des anderen Besitztums. Üppigkeit berauschte sie nicht, noch entzog ihnen ihr Reichtum die Herrschaft über sich selbst oder verleitete sie zu Fehltritten; vielmehr erkannten sie nüchtern und scharfen Blicks, dass selbst diese Güter insgesamt nur durch gegenseitige mit Tugend verbundene Liebe gedeihen, dass aber auch das eifrige Streben nach ihnen und ihre Wertschätzung diese selbst sowie jene mit ihnen zugrunde gehen.
Als aber der vom Gotte herrührende Bestandteil ihres Wesens, häufig mit häufigen sterblichen Gebrechen versetzt, verkümmerte und das menschliche Gepräge die Oberhand gewann: Da vermochten sie bereits nicht mehr, ihr Glück zu ertragen, sondern entarteten und erschienen, indem sie des Schönsten unter allem Wertvollen sich entäußerten, dem, der dies zu durchschauen vermochte, in
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