2001 Himmelsfeuer
Cousins das Tanzen, und Payats und Marimis Brüder sowie Marimis verwitweter Ehemann durften einen Mond lang nicht auf die Jagd gehen. Darüber hinaus war allen Familienmitgliedern der Verzicht auf geschlechtliche Vereinigung auferlegt, es war ihnen verboten, mit Nichtfamilienmitgliedern zu essen sowie auf den Schatten von Opaka oder jedes anderen Schamanen zu treten.
Sieben Nächte lang hatten die beiden Verstoßenen um ihr Überleben gekämpft. Ausgehungert und von Magenkrämpfen gepeinigt, hatten sie zumindest ein Plätzchen zum Schlafen gefunden, eine kleine Kuhle auf dem Boden, die Marimi mit Laub auspolsterte. Sie hatte Payat an sich gezogen, um ihn zu wärmen; dennoch hatten beide die ganze Nacht gezittert, und der kleine Junge hatte im Schlaf geweint. In dieser ersten langen Nacht hatte Marimi zu den Sternen aufgeblickt und gespürt, wie ihr eine eigenartige Taubheit in die Glieder kroch. Es war nicht der Verlust ihres eigenen Lebens, was sie verzweifeln ließ, sondern der ihres ungeborenen Kindes. Sie hatte die Hände auf ihren Leib gelegt und das Leben gespürt, das sich darin bewegte. Wie sollte sie sich ausreichend ernähren, um das Kind stillen zu können? Wenn sie vor Kälte zitterte, zitterte dann nicht auch ihr Baby? Und wenn seine Zeit kam, im Frühjahr, würde es dann wegen Opakas Fluch tot zur Welt kommen?
Ohne ihren rehledernen Rock und den Umhang aus Kaninchenfell, ohne die Wärme des Lagerfeuers und der Felldecken in der Unterkunft war Marimi einer Kälte ausgesetzt, die grimmiger nicht sein konnte. Ihre Finger und Zehen waren völlig gefühllos, das Blut schier eingefroren. Noch nie hatte sie derart gefroren wie zu Beginn ihrer Leidenszeit, als sie sich an den kleinen Payat geklammert hatte, der herzzerreißend nach seiner Mutter schrie und dessen Tränen auf seinem Gesicht zu Eis wurden.
Marimi hatte nicht gewusst, was schlimmer war, die Kälte oder die Angst.
Jeden Morgen, bei Sonnenaufgang, sprachen die Schamanen des Clans die vorgeschriebenen Gebete und ließen geheiligten Rauch zum Himmel steigen, streuten Samenkörner in die vier Richtungen, um die Götter zu beschwichtigen und ihnen Respekt und Dankbarkeit zu bezeugen. Von den Schamanen gesegnete wirkungsvolle Fetische hingen an den Eingängen der Familienunterkünfte, um das Böse und Krankheiten fern zu halten. Die Form der Hütten war rund – der Kreis war das heiligste Symbol –, und sie wurden um den großen, ebenfalls runden Tanzplatz errichtet. Das gesamte Lager aus Hunderten von Familien bildete somit einen Kreis, in dem man sich sicher fühlen konnte.
Marimi und der Junge waren aus diesem Kreis verbannt worden und gezwungen, sich allein in dem feindseligen und gefährlichen Land ohne allen Schutz der Schamanen durchzuschlagen.
Überall in dieser unheimlichen und angsteinflößenden Wildnis waren Geister. Sie hielten sich im lehmigen Boden und in den bedrohlichen Schatten versteckt, sie lauerten im Gestrüpp der Brombeeren und Hagebutten, flatterten in den Ästen herum, beobachteten die schutzlosen menschlichen Wesen, bereit, über sie herzufallen und ihre Körper in Besitz zu nehmen. Marimi war niemals allein in den Wald gegangen, immer war die Familie dabei gewesen, vorneweg die Schamanen mit ihrem heiligen Rauch und den Klappern, um den Weg sicher zu machen. Jetzt war sie nackt und auf sich gestellt, jenseits des Kreises, an einem dunklen Ort, wo sie das Raunen und Rascheln von Spukgestalten und Geistern vernahm, die an ihr vorbeischwirrten, vorbeihuschten, neckend, höhnend, drohend.
Noch schlimmer war, dass sie und der Junge keinen Geschichten mehr lauschen konnten. Wo doch Geschichten, am Lagerfeuer erzählt, die Topaa miteinander verbanden, Legenden und Überliefertes, des Nachts zum Leben erweckt, die Brücke von einer Generation zur anderen schlugen, bis zurück zum Anbeginn der Zeit. Marimis Vater gab wie alle Topaa-Väter die Geschichten weiter, die er am Lagerfeuer seines Vaters gehört hatte, wo man sie wiederum von Vätern übernommen hatte, bis zurück zur allerersten Geschichte und zum ersten Vater, der sie erzählt hatte. Jetzt aber waren Marimi und Payat von diesen Geschichten ausgeschlossen wie auch von ihren Clans und ihren Familien, sie würden niemals in die Arme des Stammes zurückkehren. Sie geisterten um das Lager herum, ernährten sich von Wacholder und den Piniennüssen, die bei der Ernte übersehen worden waren. Viel war das nicht, und schon bald schwanden ihnen vor Hunger die Kräfte. Tage
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