2001 Himmelsfeuer
und Nächte gingen so dahin, bis sie nicht einmal mehr imstande waren, Beeren zu suchen. Marimi wusste, dass sie und Payat dem Tod ins Auge sahen, und da war kein Schamane, den sie bitten konnten, bei den Göttern für sie einzutreten.
Durch die Zweige hindurch betrachtete sie den Mond, was eigentlich verboten war. Nur die Schamanen hatten dieses Vorrecht. Noch immer sprach man im Clan über den Cousin, der so lange in den Mond geschaut hatte, dass Krämpfe ihn befallen hatten, bis schließlich Schaum aus seinem Mund trat und er sich auf dem Boden wand. Der Mond konnte aber auch großherzig sein. Als Tikas ältere Schwester einfach nicht schwanger wurde, hatte sie Opaka seltene Turmfalkenfedern zum Geschenk gemacht, worauf die Schamanin in ihrer Gotthütte den Mond um die Gunst eines Kindes angefleht hatte. Im darauf folgenden Frühjahr wurde die Schwester mit einem Knaben gesegnet.
Obwohl Marimi wusste, dass sie den Blick auf den Himmelskörper meiden sollte, vermochte sie es nicht. Ausgezehrt von Hunger, ihre Seele wie ein letzter Funken Glut unter kalter Asche, befand sie sich in einem Zustand jenseits von Angst und Vorsicht. In ihrer kleinen Mulde liegend, Payats knochiger Körper im Tiefschlaf an sie gedrängt, starrte sie unentwegt auf den hellen Kreis am Himmel. Ihre Atemzüge verlangsamten sich, ihr Herz pochte an die Rippen. Ihre Gedanken verselbständigten sich, als sie, ohne es zu bemerken, leise zum Mond sagte: »Dieses Verbrechen ist allein mir anzulasten. Der Junge ist unschuldig, genauso wie das Kind in meinem Leib. Bestrafe mich, nur mich, und lass sie leben. Wenn du mir dies gewährst, werde ich alles tun, was du von mir verlangst.«
Der Mond schien jetzt heller zu strahlen. Ohne zu blinzeln schaute Marimi durch die Äste hinauf zu ihm, sah, wie er weißer wurde, greller, bis seine Leuchtkraft den gesamten Himmel vereinnahmte. Ein stechender Schmerz jagte durch ihren Kopf, für Marimi das Zeichen, dass sie selbst als lebendige Tote noch von dem Leiden geplagt wurde, unter dem sie von klein auf litt. Der Mond bestrafte sie. Sie war so vermessen gewesen, zu den Göttern zu sprechen; jetzt würden die Schmerzen bis zu ihrem Tode nicht mehr aufhören. Dann soll es eben so sein, sagte sie sich und gab sich dem Schlaf hin, der tiefer sein sollte als je zuvor. Als ihr letzter klarer Gedanke auf Wogen des Schmerzes verebbte, durchzuckte es sie: Jetzt sterbe ich.
Aber sie starb nicht, und während sie schlief, erschien ihr ihr Schutzgeist, der Rabe, im Traum. Vor ihr herfliegend, gab er ihr ein Zeichen, und Marimi folgte ihm, bis sie zu einer kleinen Schneise im Wald gelangte, auf der Wolfsmilch wuchs.
Als sie im Morgengrauen erwachte, mehr tot als lebendig, wenngleich von seltsamer Rastlosigkeit erfüllt, kämpfte sie sich mühsam von ihrem Laubbett hoch und folgte der Vision in ihrem Traum. Tatsächlich gelangte sie zu der kleinen Schneise, auf der Wolfsmilch wuchs, und verschlang gierig die stärkehaltigen Wurzeln, die zwar bitter waren, aber nahrhaft. Sie nahm auch für Payat welche mit und überredete ihn, davon zu essen.
Von da an sicherte ihnen Wolfsmilch das Überleben, und als sie allmählich kräftiger wurden, schafften sie es, kleine Fallen zu bauen und ihren Wurzelbrei mit Eichhörnchen- oder Kaninchenfleisch zu ergänzen. Es gab Reisig zum Feuermachen, und schon bald ging Marimi daran, aus Ästen und Laub eine Rundhütte zu errichten. Fernab der Erntesiedlung bastelten sie und Payat sich ein Leben, und obwohl sie mit den Gespenstern und Geistern des feindseligen Waldes allein waren, fürchtete sich Marimi weniger als zuvor, weil sie im Augenblick tiefster Verzweiflung, als sie sich von ihrem Volk verlassen gefühlt hatte und wusste, dass sie und der Junge nur einen Schritt vom Tod entfernt waren, die Eingebung gehabt hatte, sich direkt, ohne die Hilfe eines Schamanen, an den Mond zu wenden – und der Mond hatte geantwortet.
Eines Nachts wurde Marimi erneut von Schmerzen geplagt. Das Stechen in ihrem Kopf war so schlimm, dass sie meinte, Geister gingen mit Speeren auf sie los. Benommen, wie sie war, hörte sie dennoch ihren Beschützer, den Raben, der sie hieß, Opaka zu folgen. Zunächst erschrak Marimi, aber da sie ihrem Schutzgeist gehorchen musste, sagte sie sich, dass sie nichts zu befürchten hatte. Sie war ja selbst so etwas wie ein Geist, und Geister konnten sich überall aufhalten. Es stand ihr also frei, Opaka zu beobachten, wenn sie ihrem Tagewerk nachging.
Marimi trat ins
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