2008 - komplett
bis in den Tod
– den der Earl ihr als recht wahrscheinlichen Ausgang eines solchen Unterfangens vor Augen geführt hatte. Sie erinnerte sich noch zu gut an den Schnee, der ihnen die Sicht nahm, und an die Angst, die Pferde könnten mit ihren Kräften am Ende sein, bevor sie eine sichere Unterkunft erreichten.
Nur ein Narr würde sich ein zweites Mal diesen Naturgewalten stellen. Zwar war sie selbst kein Narr, doch manchmal war sie so sehr daran gewöhnt, das Sagen zu haben, und so sehr auf ein bestimmtes Ziel konzentriert, dass sie nichts anderes um sich herum wahrnahm. Das war ihre Stärke und ihre Schwäche zugleich.
„Mylady.“ Campions leise Stimme ließ sie zusammenfahren, da sie seine Anwesenheit bereits nahezu vergessen hatte. Als sie sich zu ihm umdrehte, rätselte sie, wie es dazu hatte kommen können, denn ihre Sinne waren sich seiner Nähe so bewusst wie nie zuvor.
„Ich kann Euch in einem solchen Wetter nicht abreisen lassen“, sagte er. Sein Gesichtsausdruck war freundlich, davon abgesehen aber undurchschaubar. „Verratet mir, warum Ihr so in Eile seid, und ich werde mein Bestes tun und Euch nach Kräften helfen“, fügte er mit sanfter Stimme hinzu.
Joy wich seinem forschenden Blick aus. „Ich möchte zur Weihnachtszeit einfach nur in einer vertrauten Umgebung sein. Euer Angebot ist sehr großzügig, aber ich kann Euch versichern, dass ich schon seit vielen Jahren meine Angelegenheiten selbst regele“, sagte sie.
„Offensichtlich, ja“, antwortete Campion und lächelte flüchtig, woraufhin Joys Wut wie verflogen war. Es fiel ihr schwer, auf einen Mann wütend zu sein, der Sinn für Humor besaß, vor allem wenn er auch noch recht hatte. Joy hielt Männer seit jeher für das weitaus dümmere Geschlecht, ganz gleich, wie die Kirche darüber dachte.
Immerhin waren es für gewöhnlich Männer, die Kriege gegeneinander führten und die von ihrem Machthunger und anderen Gelüsten gelenkt wurden.
Dass auch der Earl of Campion von irgendwelchen Gelüsten gelenkt werden könnte, das konnte Joy sich nicht vorstellen. Er war ein Mann, den man bewundern und dem man sogar nacheifern konnte, auf jeden Fall, was seine Ruhe und Gelassenheit betraf. Jahrelang hatte sie ihr Bestes getan, um ihren Besitz zu wahren, hatte mit klarem Kopf wohlüberlegte Entscheidungen gefällt, und doch wusste sie, dass ein Teil ihrer Persönlichkeit zu Ungeduld und Streitlust neigte, den sie nach Kräften zu unterdrücken versuchte.
Bei Campion konnte sie keine derartigen Schwächen entdecken. Genau genommen war es schwierig, dem Earl überhaupt irgendwelche Schwächen anzumerken.
Obwohl sie nie großen Wert auf das Erscheinungsbild eines Mannes gelegt hatte, ließ sich nicht leugnen, dass der Earl gut aussah. Sein Gesicht war schmal, aber markant, das dunkle Haar trug er glatt nach hinten gekämmt, und die silbernen Strähnen ließen ihn nur noch würdevoller erscheinen. Er war ganz eindeutig ein Ritter, denn unter dem feinen Stoff seiner Robe war das Spiel seiner Muskeln zu erkennen. Für einen Moment ruhte Joys Blick auf seiner breiten Brust, dann sah sie rasch zur Seite.
„Einverstanden, wir werden Eure Gastfreundschaft für eine weitere Nacht in Anspruch nehmen“, erwiderte sie, während sie versuchte, ihre abschweifenden Gedanken in den Griff zu bekommen.
„Nicht nur eine weitere Nacht. Ihr müsst für die gesamte Weihnachtszeit bleiben“, verlangte Campion. Beunruhigt darüber, dies könne als Bedrohung gemeint sein, sah sie ihn an, doch er machte einen gelassenen Eindruck.
„Ich hatte Euch schon von meinen Söhnen und ihren Familien erzählt, die durch das Wetter daran gehindert werden, an Weihnachten bei uns zu sein. Da es das gleiche Wetter war, das Euch zu uns führte, übertrage ich Euch die Aufgabe, deren Platz einzunehmen und unsere Feiertage mit Freude zu erfüllen, Lady Warwick.“
„Joy. Mein Name ist Joy“, erwiderte sie und bemerkte sein seltsam sehnsüchtiges Lächeln. Im nächsten Moment traf sie die Erkenntnis wie ein Schlag ins Gesicht.
Campion war einsam.
Wieder sah sie sich in dem weitläufigen Saal um, in dem seine Söhne und Ritter, seine Diener und Leibeigenen versammelt waren, und sie musste sich unwillkürlich fragen, wie es diesem Mann an irgendetwas fehlen konnte. Aber genau das war der Fall. Das wusste sie so sicher, wie sie ihren eigenen Namen kannte. Damit war der Earl gar nicht so allmächtig, wie sie geglaubt hatte, sondern merkwürdig menschlich.
Die Offenbarung
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