Kalte Berechnung - Eine Rachegeschichte
Eins
Meine Füße stecken in groben Springerstiefeln, die sich fest verschnürt um die Beine der ungewohnt engen Röhrenjeans klammern, in die ich mich heute gezwängt habe. Meine Schritte, die normalerweise vom melodischen Klappern hoher Absätze begleitet werden, klingen schwerfällig und fremd. Im Takt dieser Schritte hüpfen meine Haare auf den Schultern herum. Ihr feuerrotes Leuchten irritiert mich; immer wieder streiche ich sie mir aus dem Gesicht, damit meine mascaraverklebten, kajalumrandeten Augen den Weg erkennen können. Ich wandere alleine, aber als Teil einer Gruppe, freaks like me , auf dem Weg in die Stadt aus Eisen. Mein Blick ist geradeaus gerichtet, ich suche keinen Anschluss. Noch nicht.
Auch der Rest meiner Aufmachung ist dem Anlass geschuldet: Mein Top ist nicht bauchfrei, gewährt aber hin und wieder genug Einblick, um das Nabelpiercing hervor blitzen zu lassen. Fake-Plugs erwecken den Anschein, ich hätte stylish gedehnte Ohrlöcher. Wo früher abgebrochene Mercedessterne trophäengleich rebellische Arme zierten, bereift man sich heute, wenn man wirklich cool ist, mit echten Handschellen; silberner Kontrast auf schwarzen Samthandschuhen, die bis zum Ellenbogen reichen. Anstelle eines Gürtels dienen mir lange Bänder aus Leder als Halterung meiner Hose, an der Seite locker verknotet. Sie führen beim Gehen einen wilden Tanz auf und schlingen sich immer wieder um mein Bein.
Als Halsschmuck trage ich ein Hundehalsband. Eins mit Stacheln, die spitz und gefährlich wirken. Vorne, an der Öse, in der man gewöhnlich die Leine einhakt, hängt ein kleiner Schlüssel. Ist das meine kranke Art, den Schlüssel zu meinem Herzen feilzubieten? Wer weiß, vielleicht.
Mein Make-up ist gewagt und experimentell, es lässt mich wirken wie Anfang 20. Oder vielleicht auch nur wie eine Sechzehnjährige, die versucht ein wenig älter auszusehen. Undefinierbar.
In meiner rechten Hosentasche steckt ein Handy, weniger ein Telefon und vielmehr ein moderner Ersatz für den Kassettenrekorder, den ich als Kind ständig mit mir herumgeschleppt habe. Ein Kabel führt zu einem Stecker im Ohr; Musik dröhnt aus dem kleinen Lautsprecher, macht mich unansprechbar für die Außenwelt. In der linken Hosentasche finden sich ein paar Scheine, ein wenig Münzgeld. Die Karte für das heutige Open-Air-Konzert in Ferropolis, der Stadt aus Stahl, steckt in der Gesäßtasche. Immer wieder tastet meine Hand danach. Ich habe Angst, sie zu verlieren. Ohne sie werde ich mein Date nicht treffen.
Ob Du wohl auch so aufgeregt bist wie ich? Kennengelernt haben wir uns im Internet. Heute werden wir uns zum ersten Mal wirklich in die Augen sehen können. Ich bin mir sicher, Du wirst meinen Erwartungen entsprechen. Doch wird es Dir umgekehrt genauso gehen? Selbstzweifel sind angeblich normal, vor allem bei pubertierenden Teenagern. Doch meine Angst, schon Deinem ersten, prüfenden Blick nicht standhalten zu können, ist eine andere.
Du hast mich über Facebook gefunden. Eine dieser Freundesanfragen eines fremden Menschen, angenommen ohne Scheu oder groß darüber nachzudenken. Es folgte der übliche Small Talk – Wie geht es Dir, was machst Du so –, doch dem folgten schnell Komplimente. Du warst so interessiert und charmant; die persönliche Nachrichtenfunktion bekam endlich einen Sinn. Das Phänomen, sich Fremden oft einfacher anvertrauen zu können als den Menschen um uns herum, schuf bald ein Gefühl der Nähe. Der Blick ins virtuelle Postfach bekam etwas Aufregendes. Was früher auf dem Schulhof überbrachte Liebesbriefe waren, erste Boten des aufkeimenden, neuen Gefühls, bekommt man heute per E-Mail, inklusive Kribbeln im Bauch. Händchenhalten und schüchterne Küsse werden ersetzt durch das zaghafte Hervorblitzen lassen der Brustwarze in einem Videochat. Auf einmal ist man intim miteinander, auch wenn man in der Sicherheit des eigenen Zimmers nur selbst Hand anlegt. Trotzdem, diese Intimität fühlt sich echt an. Sie bedeutet etwas, erweckt Gefühle, auch wenn man einander nicht berühren kann.
Deine Berührung; ich frage mich, wie sie sich anfühlen wird. Wie wird es sein, Dir von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen, ganz nah, und Deine Hände auf meiner Haut zu spüren? Wie riechst Du? Heute soll unser erstes Mal stattfinden. Mein erstes Mal. Vor mir liegt ein Weg, den ich bisher nie gegangen bin und den ich heute unbedingt beschreiten will. Ich hoffe, ich werde nicht zu aufgeregt sein. Vielleicht wird es mich erregen.
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