2.01 Donnerschlag
will, dass er wächst. Sie will, dass er groß wird. Und wie wächst man, mein Sohn?“, stellte sie schon die nächste verteufelte Frage.
„Indem man die Konsequenzen übernimmt für das, was man tut.“ Ich sagte den Satz mit ganz spitzen Zähnen. So wie man etwas isst, das man überhaupt nicht mag. Regenwürmer zum Beispiel.
„Genau!“, nickte sie. „Und du hast die Regeln nun mal nicht befolgt. Die Regeln, die ich für dich aufgestellt habe.“ Sie hielt mir ihren Brief noch einmal vor meine vom Weinen und Schluchzen geröteten Augen.
„Und Regeln sind Abmachungen, an die man sich hält. Die gelten so lange, bis einer dem anderen erlaubt, dass er sie verändert. Verstehst du das, Nerv?“ Sie wartete, bis ich den Kopf schütteln wollte. „Nein?! Dann stell dir mal vor, du spielst das Spiel deines Lebens und in der letzten Minute gibt es ein Foul. Euer Mittelstürmer wird vor dem Tor von den Füßen geholt und ihr fordert Elfmeter. Doch dann kommt der Schiedsrichter und teilt euch kurzerhand mit, dass es die Regel ab jetzt nicht mehr gibt. Seit fünf Minuten vielleicht. Es gibt keinen Strafstoß und ihr habt deshalb verloren. Ist das gut und gerecht?“
Ich schluchzte und schluckte.
„Nein“, sagte ich. „Nein, aber ich verpass es doch gerade. Ich verpasse das Spiel meines Lebens, hörst du?!“
„Ja“, nickte sie, „und das tut mir sehr leid. Aber warum soll es im Leben anders sein? Anders als im Fußball? Warum, frag ich dich?“
Ich schwieg verzweifelt. Ich war nicht mehr wütend, denn sie hatte recht. Verflucht noch mal, ja! Beim apokalyptischen Wahrheitstraumkiller! Sie hatte recht, und weil sie das hatte, starb jetzt mein größter und wichtigster Traum. Der Traum vom Freestyle Soccer Contest, von der Liga der Besten, von Donnerschlag , hört ihr, oder was noch viel wichtiger war: Mein Traum davon, für die Kerle zu spielen und endlich ein Wilder Kerl zu sein.
Ich lag einfach da, zwischen Teddy und Schäfchen, und starrte auf meine geschlossene Faust. Aus der floss noch immer das rote Glimmen: wie Wasser, das man nicht festhalten kann. Ich schluchzte und schniefte und ich wusste Bescheid: Ich steckte im Honig, mit Armen und Beinen, mit Bauch und Popo, und mein Leben war jetzt ein ganz langer Fluss: ganz lang und ganz langweilig und zum Ersticken ruhig.
Da ertönte die Klingel. Sie klingelten Sturm, und weil meine Mutter so sehr überrascht war, schlüpfte ich mit ihr aus dem Zimmer.
Draußen vor der Haustür drängten sich die Kerle die Treppe hinauf, und ich lachte, als ausgerechnet Maxi begann: der schweigsame Maxi.
„Hallo, Frau Nerv, ähm ich meine, Frau Oberpolizeidirektor, ähm, -torin! Mein Name ist Maxi und das sind die Kerle. Vielleicht haben sie ja schon mal von den Wilden Kerlen gehört. Aber wir hätten da eine ganz kleine Frage an Sie.“
„Aber bevor wir die stellen“, stand Markus seinem besten Freund bei. „Bevor wir die stellen, sollten Sie wissen, dass wir wissen, wie das mit dem Elfmeter so ist.“
„Dem Elfer und diesem Schiedsrichterar… Entschuldigung, bitte!“, grinste Vanessa verschmitzt. „Ich meine, den Mistkerl, der die Regeln so ändert.“
„Und weil wir das wissen“, half ihr Juli aus.
„Und weil wir erwachsen sind“, erklärte ihr Leon.
„Auf jeden Fall so erwachsen, wie man mit 13 halt ist“, versuchte Raban sein Bestes und bekam als Lohn einen Tritt. Einen Tritt von Vanessa.
„Oh, du bist ja schon 14!“
„Das meine ich nicht!“ Sie trat ihn noch einmal.
„Autsch!“, fluchte Raban. „Oh, ich meine, autsch und egal. Ähm, egal, was Sie denken, ähm, ich meine egal! Aber was halten Sie davon, wenn wir Sie darum bitten, eine Regel zu ändern? Von Kerl zu Direktor oder Direktorenhexe.“
Es hagelte Tritte.
„Autsch!“, stöhnte Raban und hielt sich das Schienbein. „Entschuldigen Sie, aber ich bin immer ganz ehrlich. Ich kann gar nicht anders. Und wenn Sie uns Nerv geben, verspreche ich Ihnen, dass Leon und Vanessa, Maxi und Markus und Juli die Strafe für ihn gern übernehmen.
„Autsch!“, schrie er noch mal nach einer Sintflut von Tritten. „Und ich … autsch, ich … autsch, ich meine: ich auch.“ Er blitzte die anderen Kerle an. „Aber das geht natürlich nicht heute. Ähm, das geht erst ab morgen. Was meinen Sie, Hexe von … autsch, Bogen … autsch! -en.“
Er blinzelte durch seine Coca-Cola-Glasbrille und zog den Kopf ängstlich wie eine Schildkröte ein. Denn meine absolut sprachlose Mutter wurde jetzt
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