2012 – Das Ende aller Zeiten

zu fassen. Binnen einer knappen Sekunde erkannte ich, dass der Schnupfer tot war, und mir wurde klar, dass ich zum ersten Mal jemanden getötet hatte. Es heißt, dass das erste Mal eine Flut von Schuldgefühlen und freudiger Erregung mit sich bringt, dass man mitfühlend reagiert und das Blut in den Ohren rauschen hört, den Tunnelblick kriegt und in Ohnmacht fällt, oder aber man bekommt ein Hochgefühl, das bis zum Orgasmus gehen kann. Ich rechnete mit wenigstens einer dieser Reaktionen. Stattdessen empfand ich Gewohntes: So fühlte ich mich beim Shoppen, wenn ich etwas Teures kaufte, den letzten Plymouth Barracuda, zum Beispiel. Oder wenn ich in den letzten fünf Sekunden einer Auktion bei eBay noch ein Gebot abgab. Ich empfand denselben Spannungshöhepunkt, das Abflauen und die Erleichterung, dann einen verblassenden Nachgeschmack, der sich aus der Reue des Käufers und der Befriedigung des Besitzers zusammensetzt. Es war, als gehörte der Schnupfer mir. Oder eher, als hätte ich seinen Körper von seinem Uay getrennt, das nun schnüffelnd um mich herum streifte, bereit, mir auf allen Wegen zu folgen. Doch wenn ich die richtigen Dinge täte, könnte ich es davon abhalten, Rache an mir zu üben, und es stattdessen zu meinem Schoßtier machen. Oder vielmehr zu meinem Sklaven. Aber dann mischte sich unter diese Empfindungen so etwas wie Schuld, doch es war mehr körperlich – ein Gefühl, sich besudelt zu haben, als wäre ich in Erbrochenes getreten, oder als hätte ich mich mit radioaktiven Chemikalien verseucht, und jetzt wäre mein Arm heiß, und ich müsste dekontaminiert werden. Ich war nur dem Tod sehr nahe gekommen, und der Tod ist ansteckend. Und schließlich wurde mir klar, dass ich so und nicht anders empfand, weil der Schnupfer keineswegs der Erste war, den ich getötet hatte. Ich – das heißt, Schakal – hatte schon andere Menschen umgebracht. Sieben, um genau zu sein. Auf dem Hüftballplatz.
    Ich fühlte nicht, was ich fühlen würde, was Jed fühlen würde. Okay, ich hatte die Gewalt über Schakals Körper, doch meine Emotionen gehörten zu ihm. Und das war kein Wunder, denn zu neunundneunzig Prozent war mein Nervensystem noch immer seins. Und dann war da dieses dünne kleine Muster um seine Hirnrinde, die ihm sagte, er sei ich und nicht er selbst. Das Ich ist keine große kosmische Macht. Es ist schwach.
    Der kleine Ozelot hatte sich von rechts genähert, wobei er seinen Fangschrei brüllte. Ich kam hoch, hatte aber keine Chance, ihm davonzulaufen, und drehte mich um. Er hielt seinen Speer wie eine Lanze, um mich aufzuspießen. Ich warf mich zu Boden und rollte zur Seite. Er reagierte schnell und setzte zum nächsten Versuch an, war mir aber so nah, dass ich ihm einen Mund voll Blut mitten auf die Brust spuckte, was einen großen roten, schleimigen Fleck hinterließ. Da hast du’s , dachte ich. BAZILLEN !!!
    Er wich zurück. Hinter ihm sah ich den Harpyien-Knaben abwarten. Warum? Vielleicht hatte auch er Angst vor Bazillen. Oder war er vielleicht ein bisschen auf meiner Seite? Nein, sie haben nur fürchterliche Angst, mit mir in Berührung zu kommen. Ich bin unrein. Es war irrational, aber ich fühlte mich beleidigt. Um Himmels willen. Mach es dir lieber zunutze!
    Der kleine Ozelot näherte sich wieder. Der Fackelschein über mir spiegelte sich in seinen Augen, und Schakals Erfahrung verriet mir, dass er mich nicht so gut sehen könnte wie ich ihn, wenn er gegen das Licht blickte. Ich hechtete auf ihn zu, lenkte seinen Speer mit der linken Hand ab und stieß ihm meinen in den Mund. Er blieb darin hängen, und ich fühlte etwas Weiches – lass dir mal die Mandeln rausnehmen, Dreckskerl! Ich sprang und zerrte den Schaft drehend aus seiner Wange. Er gab keinen Laut von sich und wich auch nicht zurück, rang lediglich um das Gleichgewicht und griff wieder an. Ich schlug zu, und meinSchaft knallte auf seinen Speer und glitt daran hinauf gegen seine Finger. Es machte knack , und er ließ den Speer los. Aufheben? Nein, zu spät. Zeit, die Fliege zu machen. Schritt. Schritt. Acht Schritte den Hügel rauf hörte ich das verräterische Rasseln von Muschelschmuck: Der Harpyien-Junge ging in Wurfstellung. Der Wurf war idiotensicher.
    Verdammt, dachte ich, du hättest es geschafft. Ich war auf den tödlichen Stoß im Rücken gefasst, doch der Speer sauste mit dem wundervollen Zischen des Fehlwurfs links an mir vorbei. Zwei weitere Hüpfer. Ich hörte den Harpyien-Jungen stolpern und fallen. Seltsam.