2012 – Das Ende aller Zeiten
Halbkreis über uns zogen. Dieser Farbensturm sah aus, als hätte sich das Weiß des Himmels in seine Primärfarben aufgespalten. Zwei Vogelkleckse fielen herab, die mich verfehlten. Einer traf Gürteltierschiss an der Brust. Dafür ist er schließlich da, dachte ich. Die Vögel griffen Hun Xocs Lied auf und erwiderten es mit tausend heiseren, aber passablen Imitationen seiner Stimme, wiederholten es in einem fort, während sie leiser werdend nach Süden zogen: » T’u men, t’u men – auf uns warten, auf uns warten …«
In dieser Nacht änderte 12-Kaiman das Tempo auf Gehen, sodass wir die Beine strecken konnten, ohne uns abzuarbeiten. Es war wie bei den Pfadfindern, die immer dreißig Schritte gehen und dreißig Schritte rennen, nur dass unsere Raten eher bei zehntausend Schritten lagen. Bei 31-Hände, das irgendwo bei Córdoba lag, kam der Chtlaltépetl in Sicht. Er war und ist der größte Vulkan Mexikos. Der spanische Name wäre Orizaba, und 12-Kaiman nannte ihn »Wo Räudemann ins Herdfeuer sprang«. Über seinem Gipfel zog eine graue Fahne davon, aber ich schätzte, es war nur eine Wolke. Soweit ich mich erinnern konnte, war er zuletzt vor zweitausend Jahren ausgebrochen und würde erst 1687 wieder groß spucken.
Über die Straße fiel ein Schatten, und einen Moment lang dachte ich, es wäre der Sturm oder vielleicht eine pyroklastische Wolke von der nahen Eruption, aber dann erkannte ich, dass es Vögel waren, Tauben; als einige dicht an uns vorbeisausten, hatte ich zuerst Schwierigkeiten, sie zu bestimmen, denn sie hatten eine zinngraue Brust, die in ein warmes, namenloses Hellrot überging, aber dann kam ich darauf, dass es Wandertauben waren. Sie wechselten alle gleichzeitig die Richtung, und der Himmel sah aus wie ein Wald von Pappeln oder Espen, der von einer plötzlichen Windbö erfasst wird, die die silberne Seite der Blätter nach oben kehrt, und dann strömte die gesamte, den Kontinent umspannende, fühlende Woge nach Westen, zum Nacananomacob, dem See der Schwingen. Eine Stunde später flogen noch immer einige Nachzügler vorbei. Es war nicht zu glauben, dass sie einmal ausgerottet sein würden, aber in gewisser Hinsicht war es noch unglaublicher, dass eines Tages nur eine übrig sein sollte, die am 1. September 1914 um 12 Uhr 30 verstarb. Gegen Mittag mussten wir wegen eines Richtungstabus ganz kurz am Topacanoc, »Hügel der Nase«, anhalten. Oder vielleicht sollte ich es besser Vektortabu nennen. Wenn man in eine bestimmte Richtung lief, präsentierte man sich einer bestimmten Schutzgottheit in einem bestimmten Berg, und die hatte man zu respektieren. In diesem Fall war Hun Zotz, das ist 1-Fledermaus, der im Westen lebte, bis zur Dunkelheit indisponiert. Sie wollten mir nicht sagen, wo das Problem lag, aber ich bekam den Eindruck, dass er eine Sie war, die gerade ihre göttliche Periode bekommen hatte. Es war zum Verrücktwerden. Keine Panik, dachte ich. Es ist unwichtig, wie weit das Ziel entfernt ist – Hauptsache, du bewegst dich darauf zu. Das ist der Granolariegel, der dir die Kraft gibt.
Im fünften Neuntel der Nacht griff der Rote Verschlinger an. Das heißt, es gab eine partielle Kernschatten-Mondfinsternis. Angeblich war das Auge des Roten Verschlingers wie das einer Eule, sodass er Bewegungen im Dunkeln sehen konnte. Und er favorisierte die Ozelots. Darum mussten wir Halt machen und kampieren, wo wir gerade waren, auf einer unkrautbewachsenen Brache, die zu dicht an der Landstraße lag. Ringsherum erhoben sich spitze Schreie, mit denen die Leute den Schatten verscheuchen wollten. Die meisten kamen von weit weg;aber andere ertönten näher, als uns lieb war. Darunter waren greise Stimmen, die eine alte Form des hiesigen Kauderwelschs krächzten; dazu kam der ausländische Dialekt der Reisenden und Flüchtlinge, die in Choula einquartiert waren, und sogar Hunde und Totenkopfäffchen und wilde Katzen mischten kläffend und quiekend und fauchend mit. Ich stieg Gürteltierschiss auf die Schultern und blickte über die hohen Gräser zu der verrottenden Kleinstadt zurück. Auf der sichtbaren Seite der alten, einem Ameisenhaufen gleichenden mul leuchteten die zweiundfünfzig Nischen, als die Säuger ihre Feuer anfachten.
Der rötliche Schatten erreichte das Mare Vaporum. Da tönte ein grässlicher Septimakkord aus langen, dünnen mexikanischen Requiemtrompeten, wie Schakals Ohren wussten. Es war das erste Mal, dass wir sie auf dieser Reise hörten, und sie lösten einen
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