2012 – Das Ende aller Zeiten
niemand mehr darauf.
Ich sah mich um, als ich eine Art bitteren Weihrauch roch. Eine Familie von Zu-Großen, die sich einen Weg auf die andere Seite der Gasse bahnte, blieb still stehen und senkte die Köpfe.
Etwas stimmte nicht. Aber was?
(49)
Hmm.
Die Teotihuacáner waren nicht laut, doch man spürte ohne Unterlass, dass einen Myriaden von ihnen umgaben. Den ganzen Tag lang hatten wir Stimmen gehört, Gescharre, Gehämmer, das Knacken von Tortillas und von Feuerstein, das Summen eines regen Bienenstocks. Jetzt kam es mir vor, als wäre alles verschwunden. Jeder menschliche Laut war verstummt.
Hier gab es keine Dämmerungsrituale wie in den Stadtstaaten der Maya. Es gab nur eine unbehagliche Stille. Man vermied sogar im normalen Gespräch, den Sonnenuntergang zu erwähnen. Man sprach einfach von »später« oder »früh in der Nacht«
Ich blickte Hun Xoc an. Er stieß die Luft aus, was bei den Maya gleichbedeutend mit einem Verdrehen der Augen ist. Die Leute sahen zu ihm auf, als hätte er gesagt: Psst! Alle mal hinhören.
Ich lauschte. Immer noch war ein Meer von Geräuschen um uns her: das Jappen der Möwen und Hunde, das Trommeln der Truthähne und das ultrahohe Huschen der Fledermäuse, doch die Welt hielt den Atem an.
Verdammt, dachte ich. Ein bisschen zu viel Spannung für meinen Geschmack. Ich musterte die Bittsteller. Sie starrten zu Boden oder auf auf ihre Mantas, nur nicht zum Himmel. Die Frau, die rechts neben mir saß, zitterte, und ich merkte ihr an, dass sie nicht vor Kälte oder wegen einer Krankheit bibberte, sondern aus Angst. Nach achthundert Jahren fürchtete die Stadt sich noch immer vor der Dunkelheit.
Endlich sank die Sonne, und Kohs Leute kamen und führten uns durch einen leeren blauen Innenhof in ein Schwitzbad. Wir wurden entkleidet, mit Öl eingerieben und in neue Kleidung gewickelt, Kilts und Schärpen aus purpurner Baumwolle mit großen Mantas darüber.Purpur war eine neutrale Farbe – nicht, was modische Fragen anbelangt, jedoch insofern, als es zu keiner bestimmten Sippe gehörte. Die Wächter führten uns durch ein Labyrinth gewundener Gänge – vielleicht, um uns zu verwirren – und über einen anderen kleinen Hof in einen kleinen quadratischen Raum.
Sieben Gestalten saßen auf der Bank und sahen aus dem Halbdunkel zu uns hoch, als hätten wir sie bei irgendetwas unterbrochen, was wahrscheinlich auch der Fall war. Fünf von ihnen waren als Männer gekleidet und trugen blaue Mantas mit Rautenmustern. Ihre Hüte erinnerten an große lose Turbane und verbargen fast ihr ganzes Gesicht. Dennoch erkannte ich an den Piercings, dass die meisten von ihnen einheimische Teotihuacáner waren, vielleicht hochrangige Neubekehrte der Seidenweberin. Einer von ihnen war ein untersetzter Kerl mit gebrochener Nase. Die schwarz-orange Perlenstickerei auf seinem Manta kennzeichnete ihn als eine hochgestellte Persönlichkeit. Es war der Mann, von dem 14 uns gesagt hatte, er könnte hier zu finden sein: 1-Gila, der Anführer des Gila-Hauses, einer großen Händlersippe aus der Aura-Hälfte, die sich nun zum Rassler bekannte. Er hatte seinen Sohn dabei. Beide wirkten ziemlich zäh. Wir waren ihnen nicht vorgestellt worden und beachteten sie kaum. Solange man einander nicht offiziell vorstellte, was sehr lange dauern konnte, tat man so, als würde man einander nicht sehen. Außer den Gilas waren zwei Personen im Raum, von denen ich annahm, dass es sich um Frauen handelte. Vielleicht waren sie Kohs Gemahlinnen. Außerdem sahen wir jemanden, den ich für einen Clown oder Narren hielt, denn er trug ein Stachelschweinkostüm. Als meine Pupillen sich anpassten, sah ich, dass in der Ecke hinter uns ein Hund kauerte und dass am Boden kleine Krüge und Schalen und ein breites, luxuriös mit schmelzendem Schnee überhäuftes Tablett auf Schichten blau-weißer, das Auge verwirrender Teppiche ausgebreitet waren.
14 zufolge handelte es sich um ein Gemeinschaftshaus, das sich fünf oder sechs Familien teilten. Die Familien bestanden ausschließlich aus Frauen. Man betrachtete sie trotzdem nicht als lesbische Partnerschaften. Soweit ich seinen Worten entnehmen konnte – die nicht völlig Sinn ergaben –, waren die Töchter des Kugelwebers nicht durchwegandrogyn. Vielmehr galten diese Gemeinschaften gesellschaftlich als reguläre, hetero-normale Familien, in denen einige Frauen die männliche und andere die weibliche Rolle übernahmen. Frau Koh war einer der »Geblüte«, was es ihr erlaubte,
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