2012 – Das Ende aller Zeiten
einer muslimischen Stadt, wo man die bessergestellten Frauen als zu wertvoll ansah, um sie aus dem Haus zu lassen. Zumindest erklärt man dort die Geschlechtertrennung auf diese Weise. Die Stadt ging mir mächtig auf die Nerven. Nein, hier würde ich nicht wohnen wollen.
Sie war riesig, und doch unterschied sie sich wesentlich vom Bildeiner Stadt, wie ein Mensch des 21. Jahrhunderts es hatte. Es war eine Ansammlung von Dörfern. Man konnte hier sein ganzes Leben verbringen und nie in den benachbarten Stadtteil gelangen. Kam es doch dazu, fühlte man sich augenblicklich so, als würde man ein fremdes Wohnzimmer betreten. Dann musste man einige Zeit mit dem Menschen verbringen, dem man zuerst begegnete, und mit ihm darüber reden, mit wem man verwandt war und wer seine Verwandten waren, und wenn man keine gemeinsamen Verwandten finden konnte, verprügelte er einen. Ausgehen konnte man auch nicht, denn Gastwirtschaft war unbekannt. Ebenso gab es keine Geschäfte, nur die einzelnen Marktplätze. Auch Theater existierten nicht, es sei denn, man zählte die dramatischen religiösen Darbietungen auf den einzelnen Plätzen dazu, doch diese standen allein den Mitgliedern offen. Unterhaltung war ein Fremdwort. Man konnte allenfalls das Haus eines Verwandten besuchen und in seinem Innenhof den Sängern zuhören. Deshalb verließen die Leute ihre Häuser kaum. Sie gingen nicht spazieren. Am Wochenende fuhren sie nicht aufs Land, um frische Luft zu schnappen, und sie brachten ihre Kinder nicht zur Schule.
Das alles lag nicht etwa daran, dass die Leute die ganze Zeit gearbeitet hätten. Ich nahm an, sie erfüllten meist irgendeine Pflicht – der Familie gegenüber, der Sippe, dem Haus, den Dutzenden von Schirmherren, den Lebenden, den Ungeborenen und vor allem den Toten. Sie taten Dinge, die wir Menschen des 21. Jahrhunderts als rituell bezeichnen würden. Für die Menschen damals allerdings waren es praktische Verrichtungen. Worauf ich hinaus will: Die Stadt besaß eine anhedonische Ausstrahlung, eine alles überwältigende Heiligkeit, so wie Jerusalem. Vielleicht steckten die Pilger einen mit ihrer Frömmigkeit an. Und wie in Jerusalem war es hier zu überfüllt. Man konnte spüren, dass es hier unterschiedliche rivalisierende Kulte gab. Und wie andere gigantische Metropolen war Teotihuacán zu lange gewachsen und verfaulte im Kern. In Ix hatte ich nicht gerade eine tolle Zeit verlebt, aber jetzt empfand ich Heimweh danach. Trotz ihrer strengen Hierarchien herrschte in Maya-Städten eine ständige Feierlaune, und irgendwo hörte man immer jemanden lachen. Diese Stadt aber war trotz aller Teocallis und Vögel und Blumen düster.
Wir bahnten uns einen Weg in die Mitte des Platzes. Eine Sekunde lang fühlte ich mich von einer Kraftlinie gelähmt, die von der mul der Jadehexe ausstrahlte, und ich blieb stehen, als wäre mir schwindlig. Hun Xoc berührte mich, und ich folgte ihm nach Süden. Die Menge war dicht, aber es ging voran. Wie üblich waren Stufen in der Straße. Sie ermüdeten mich nicht – über dieses Stadium war ich hinaus –, aber das Auf und Ab versetzte mich in eine Art Trance. Bänder aus dunkler und heller Farbe an den Wänden und auf dem Pflaster schufen eine Op-Art-Illusion, sodass man Höhenunterschiede nicht immer erkennen konnte oder kaum wusste, wie nahe die Mauern waren und wo die nächste Stufe sein würde. Es war, wie wenn man waagerechte Streifen auf Treppenstufen malt und jemand, der die Treppe hinuntersteigt, stolpert und stürzt.
Vorsichtig, bedeutete Hun Xoc mir. Ich machte ziemlich große Schritte, und ein Trupp Pumas näherte sich uns, dem er weiträumig ausweichen wollte. Wir schwenkten nach rechts, auf den großen offenen Fetischmarkt zu – was meiner Ansicht nach eine korrekte Benennung des Platzes ist, denn dort und nirgendwo anders sollte mit Figuren und Drogen, Sklaven und Klingen, Glücksbringern und was weiß ich noch allem gehandelt werden, mit anderen Worten, Waren mit relativ machtvollen Seelen. Wir wandten uns nach Osten und hielten auf die Ciudadela zu, den Hof des Rasslers.
Die Ciudadela war imposant und einladend, größer als irgendein anderer Platz, und erhob sich ein gutes Stück über das durchschnittliche Höhenniveau der Stadt. Sie umfasste zwölf große Wachtplattformen, und auf drei Seiten führten breite Treppen mit einunddreißig Stufen hinauf. Man konnte sehen, weshalb die Spanier sie für eine Festung gehalten und »Zitadelle« genannt hatten. An ihrem Ostende
Weitere Kostenlose Bücher