2012 – Das Ende aller Zeiten
und stiller. Hölle und Versäumnis, dachte ich. Ich hatte überlegt zu versuchen, irgendwo ein paar Dosen Spieldrogen zu beschaffen und schnellstmöglich vor der Vigil aus dieser Hirnistadt zu verschwinden. Na ja, so viel zu dieser Idee.
Wir zwängten uns die volle Treppe hinunter. Von beiden Seiten beäugten uns Puma-Gardisten, deshalb hielt ich den Kopf gesenkt und riskierte nur einen einzigen raschen Blick auf die mul des Rasslers. Sie wirkte wie aus zwei riesigen Schlangen geflochten, zwei Aspekte des Rasslers: der Meeresrassler, geschmeidig und naturalistisch, und der Himmelsrassler, stilisiert und geometrisch, mit gewaltigen blauenChaak-Augen und gleichseitigen Zähnen. Frau Koh wohnte in einem von zwei Gebäuden an der Südseite des Rasslerhofes, ihr männliches Gegenstück im anderen. Die Gebäude verrieten nicht, welches zu wem gehörte. Sie bestanden aus Holz, das glatt mit Gips bestrichen war, und waren in einem älteren Stil errichtet, fast ohne Fenster; nur hin und wieder fand sich ein Lichtschlitz. Die Fassaden hatte man blau getüncht und nicht orange, wie es auf dieser Seite üblich war. Alle Türen waren klein und mit Furcht einflößenden Gesichtern bedeckt. Vor den meisten Türen saßen ein oder zwei Wächter. Waren sie eine permanente Einrichtung, oder hatte man sie postiert, weil die Lage in letzter Zeit so kritisch war? Familien von Bittstellern, Teotihuacáner, Zu-Große und andere drängten sich in der Gasse. Sie hatten keine Schlafsäcke, und es gab keine Feuer, und so saßen oder kauerten sie nur da und froren. Kein Wunder, dass Koh nicht mit uns sprechen wollte. Scharenweise wies sie die Leute ab.
Wir stiegen über sie hinweg, und ein paar Mal traten wir auch auf sie. Einer oder zwei murrten leise, doch dank des Kastensystems kamen wir mit allem durch: Wir waren Geblüte, sie waren nichts; mehr gab es nicht zu sagen. Linke-Yucca führte uns zu einem der Gebäude, aber nicht zur Tür, sondern ein Stück daneben. Man klopfte hier nicht an. Das wäre zu aggressiv gewesen. Man pfiff entweder so leise wie möglich oder wartete einfach, bis jemand herauskam. Vor dem Eingang zum Hof kauerten drei Mann und spielten auf einer fleckigen Stofffläche die Glücksspielversion von Patolli. Sie erhoben sich, als sie uns sahen, und wir stellten uns vor.
Sie wollten nicht hineingehen und sagten, es hätte keinen Sinn, doch Linke-Yucca schien sie sich bei seinem ersten Besuch verpflichtet zu haben, denn er konnte sie in eine Diskussion verwickeln, dass wir zwar nur um fünf Ecken mit Frau Koh verwandt seien, dies aber nicht bedeuten könne, dass es ihr recht wäre, wenn die Leute sagten, sie habe »ihre Herdsteine umgetreten«, das heißt, die Pflicht zur Gastfreundschaft vernachlässigt. Oder?
Sie sagten, wir sollten warten. Einer von ihnen ging hinein. Ich kam mir vor, als hätten wir Ende 1989, und wir sprächen mit Armando, dem Türsteher am Nell’s.
Wir warteten. Das ist doch müde, dachte ich. Vielleicht ist Koh sowieso nur ein Schlag ins Wasser. Denn die offensichtliche Frage lautete doch: Wenn das Spiel mit neun Steinen so mächtig war, wieso beherrschten die besten Sonnenaddierer dann nicht die Welt? Zumindest ihre Welt beherrschten sie: Sie hatten die Stadt fest in der Hand, und das übrige Mesoamerika ebenfalls, auch wenn sie den Katzensippen die alltägliche politische Kleinarbeit überließen.
Ich glaube, die eigentliche Frage, die ich mir stellte, lautete: Warum hat das Opferspiel sich nicht auf die Alte Welt ausgebreitet und wird es auch nicht tun? Fernand Braudel pflegte seinen Studenten eine Aufgabe zu stellen: Sie sollten eine Antwort darauf geben, weshalb das China des 14. Jahrhunderts, das eine gewaltige Marine besaß, Papiergeld und alles Mögliche entdeckt hatte, nur nicht Amerika. Seine beste eigene Antwort lautete, dass sie es nicht zu entdecken brauchten. Jedem, der in China an der Macht war, konnte es besser gar nicht gehen.
Vielleicht brauchten die Sonnenaddierer schlichtweg nichts mehr zu beherrschen. Es ist viel Massenträgheit im Spiel, und die kann stärker sein als Fortschrittswille oder Ehrgeiz. Wenn alles gut lief, wieso etwas riskieren? Gute Absichten verfangen nicht immer. Manchmal sterben sie, obwohl oder gerade weil sie so gut sind. Babbages Differenzmaschine blieb ein ganzes Jahrhundert lang ungebaut. In Polynesien kannte man zunächst die Töpferkunst und vergaß sie wieder. Die Römer verwendeten Beton; nachdem das Rezept verloren gegangen war, kam vor 1824
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