2012 - Die Prophezeiung - Alten, S: 2012 - Die Prophezeiung - Phobos
ein. Er sieht hinab auf seine geköpfte sterbliche Hülle und seine gefallene Nation. Von Grauen erfüllt schreien die Menschen auf, als ihr heiligster Tempel ins Wanken gerät und die Basis der Pyramide unter einer Lawine von Gier und Negativität, Neid und Hass zusammenbricht.
»Versuche, deine Augen zu öffnen.«
Er kämpft gegen ein Gewicht an, das sich nicht von der Stelle rührt, bis er entdecken muss, dass er, so scheint es, keine Arme mehr besitzt.
»Kämpfe dich frei. Schaffe dir Schmerz.«
Dunkelheit umhüllt ihn von allen Seiten, und er drückt sein blutendes Gesicht gegen eine kalte Steinmauer. Wieder und wieder presst er sich gegen die Wände seines
Verlieses, bis er irgendwo tief in einem Abgrund das Kribbeln seiner Hände spürt. Ermutigt drückt er sich mit neuer Kraft gegen die abgerundeten Wände, während er unablässig seine verloren geglaubten Hände öffnet und schließt und der Schmerz seine Arme ins Leben zurückruft. Seine Finger kriechen den zerschmetterten Oberkörper hinauf zu dem kranken Fleisch, das er zu einer blutigen Masse geschlagen hat, und umschließen den Bernstein, der seine Augen versiegelt, bis er das Licht entschleiert und …
… über ihm lockend und fern ein schmaler Schlitz in der Erde erscheint. Tageslicht schimmert durch einen gewundenen Felsspalt in die rattenverseuchte Höhle, in der er sich befindet. Er sieht sich um, während sich sein Bewusstsein mühsam aus einer Art erzwungenem Winterschlaf kämpft, auch wenn er noch immer zu benommen ist, um alle Einzelheiten seiner Umgebung in sich aufzunehmen.
Er greift in den Spalt in der Höhlendecke und bekommt ein Stück Fels zu fassen. Vorsichtig zieht er seine nackten Füße nach oben, um die Hebelwirkung auszunutzen, drückt sich in den Spalt und beginnt seinen Aufstieg, indem er sich durch den schmalen Schacht schiebt. Kalksteinsplitter schneiden sein Fleisch auf, Wurzeln zwingen ihn dazu, sich so dicht gegen den Fels zu drücken, dass er kaum noch atmen kann.
Schließlich schiebt er sich hinaus ins Tageslicht, und seine Mühen werden mit einer frischen Brise salziger Luft belohnt.
Er steht auf dem Gipfel eines Berges. Dünner Nebel verhüllt das Meer im Westen. Er kann hören, wie die Wellen unter ihm an die Felsenküste schlagen. Als er
nach unten sieht, kann er in der westlichen Bergflanke ein Symbol erkennen, das feucht in der Sonne schimmert. Es ist ein gewaltiger Dreizack, der tief in den Felsen geritzt wurde.
Dann sieht er den Mann.
Er ist groß und bleich, hat seidiges weißes Haar, einen weißen Bart und eindringliche Maya-blaue Augen. Wartend steht er im Nebel am Rand des Gipfels.
»Bist du derjenige, der mich zu Hunab K’u bringen wird?«
»Du hast dir nicht das Recht verdient, den Schöpfer zu sehen.«
»Wer bist du, dass du es wagst, so mit mir zu sprechen? Ich bin Chilam Balam, der größte Prophet der Geschichte.«
»Wenn du so ein großer Prophet bist, Chilam Balam, wie kommt es dann, dass du im Kampf besiegt wurdest? Du hättest das Böse von Sieben Ara vorhersehen und ihn überwinden müssen. Stattdessen hast du dich weiter vom Baum der Erkenntnis genährt, bis dein Ego gesättigt war und du deiner Mission gegenüber blind wurdest.«
»Mission? Welche Mission?«
»Du hattest die Aufgabe, die Evolution der Hunahpu voranzubringen. Dein Verlangen, alleine im Licht von Hunab K’u zu baden, hat die Dunkelheit über dein Volk gebracht.«
Von Osten her klärt sich der Nebel und enthüllt eine Stadt, die in einem Tal zwischen den Bergen liegt. Das einst fruchtbare Land ist fast bis zur Wüste verdorrt, die Bergflanken der Umgebung wurden wegen ihrer Mineralien geplündert.
Eine blutrote Pyramide thront über der Stadt. Ihre Seiten funkeln von in das Mauerwerk eingelassenen Edelsteinen. Tausende Gläubige haben sich vor dem Monument versammelt. Ein Dutzend von ihnen wartet darauf, geopfert zu werden.
Sieben Ara erscheint auf der Plattform an der Spitze der Pyramide. Seine Stimme hallt über die Reste der geschrumpften Stadt hinweg. »Ich bin groß. Mein Ort ist höher als Menschenwerk, als Menschengestalt. Ich bin die Sonne und der Mond, ich bin das Licht, und ich bin auch die Monate. Ich bin Fußweg und Trittstufe für die Menschen … ich bin der Bezwinger. Bringt mir die Seelengefährtin von Chilam Balam.«
Eine nackte Frau mit blau gefärbter Haut wird die Tempelstufen hinaufgebracht. Ihr Erscheinen lässt die Gläubigen verstummen. Vier Priester führen sie zu einem Idol, vor dem
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