2012- Die Rückkehr
Ammoniakgestank ihr fast den Magen umdrehte.
Über zweihundert Meter hinweg folgte sie einem Höhlenabschnitt, den Menschen das letzte Mal elf Jahrhunderte zuvor aufgesucht hatten. Schließlich erreichte sie die Mündung einer Grube. Das Loch hatte einen Durchmesser von zehn Metern, und sein Grund verschwand in der Dunkelheit.
Vor langer Zeit hatten die Höhlenbewohner eine Bambusleiter an den fast senkrechten Wänden der Grube angebracht. Als Lilith in die Tiefe sah, schienen diese Wände
im Licht ihrer Lampe zu funkeln; der unterirdische Kalkstein hatte sich in Quarzkristalle verwandelt.
Wellen kalter Luft stiegen aus der Grube nach oben und strichen ihr kühl über das Gesicht.
»Onkel … ich habe Angst.«
»Ein Loch in der Erde kann dir nicht wehtun. Sobald dich dein wahrer Vater umarmt, wie er auch mich umarmt hat, wird es nichts mehr geben, was dir je wieder Angst machen könnte. Du wirst dich selbst durch und durch erkennen und das Universum auf eine Weise zu sehen lernen, die du dir nie erträumt hättest.«
»Unser Gefallener Engel wird zu mir sprechen?«
»Ja. Du wirst seine Gegenwart spüren, wenn er in deinen Geist eindringt, du wirst die Schwingungen seiner Macht spüren, wenn er deine Seele berührt, seine Weisheit mit dir teilt und dich führt, wie er mich geführt hat.«
»Bring mich zu ihm. Ich muss seine Liebe spüren.«
Sie schob sich den Griff der Taschenlampe zwischen die Zähne und kletterte die Leiter hinab, und ihr Mentor folgte ihr in die dichte Schwärze hinein.
Achtzehn Meter in die Tiefe … einundzwanzig Meter.
Lilith stolperte, als sie plötzlich und ohne Vorwarnung festen Boden erreichte.
Sie stand auf dem Grund der Grube, umgeben von den Überresten uralter Menschenopfer. Knochensplitter knirschten unter ihren Stiefeln. Menschliche Schädel und verbogene Wirbelsäulen lagen mitten zwischen Jadeschmuck und Fetzen von Opferkleidung.
Eintausend Jahre zuvor war die Grube eine Süßwassercenote gewesen. Schließlich war das Wasser abgeflossen, und Ratten hatten sich über das verweste Fleisch hergemacht.
Sie drehte sich zu Don Rafelo um. »Wer sind diese Menschen?«
»Anhänger des Tezcatlipoca-Kults. Siehst du? Sein Geist zeigt dir den Weg.«
Liliths Licht fiel auf eine schmale Passage - den Abfluss der Cenote. Sie nahm ihre Kraft zusammen und ging weiter.
Ein schwieriger, vierzig Minuten dauernder Abstieg durch einen gewundenen Tunnel führte sie in eine weitere Kammer; diese Höhle war so groß wie eine Sportarena. Die gewölbten Wände spiegelten die Wasseroberfläche eines unterirdischen Sees wider.
Don Rafelo deutete darauf. »Die fünfte Ebene. Du hast sie erreicht.«
»Onkel, die Wände - warum funkeln sie?«
»Die gesamte Kammer besteht aus Quarzkristallen. Kristalle sind lebende Organismen, die elektrische Energie speichern. In diesen Wänden funkelt ihr Wissen.«
Sie folgte ihm an das Ufer des unterirdischen Sees. Seine oberen Wasserschichten waren klar wie Glas, während am Grund eine Salzschicht lag, über die nebelähnliche Schwaden dahinzogen.
»Die verborgenen Wasser der heiligen Cenote«, sagte Don Rafelo. »Wir sind nicht weit vom Meer entfernt. Leg deine Kleider ab. Es ist Zeit für deine Taufe.«
Lilith zog sich nackt aus. Vor Kälte schaudernd, schritt sie in den See und sank in die Tiefe, denn sie schätzte die fast durchsichtige, neblige Schicht, die das Süßwasser vom Salz am Boden trennte, falsch ein.
Hustend kam sie wieder hoch. »Es ist eiskalt.«
»Schwimm in die Mitte. Dort findest du einen flachen Felsen, auf dem du stehen kannst.«
Lilith schwamm hinaus in die Dunkelheit, und das Pfeifen ihres Atems mischte sich mit dem Geräusch des aufspritzenden Wassers, das in der ganzen Höhle widerhallte. Als sie die Mitte des Sees erreichte, stießen ihre
Hände auf den Felsen, und sie zog sich hinauf auf die rutschige Kalksteinerhebung. Ihre Zähne klapperten, und ihr Kopf schien plötzlich vor Elektrizität zu summen und zu vibrieren.
Lilith hielt inne, umgeben von Dunkelheit und Fels. Sie warf einen Blick zurück auf das von ihrer Taschenlampe erleuchtete Ufer und wartete auf weitere Worte Don Rafelos.
Dessen langer Schatten tanzte im unheimlichen Licht, als er einen Sprechgesang anstimmte. »König der Gefallenen Engel, Herrscher der Hölle, ich habe dir deine Gemahlin Lilith gebracht, die Dämonenkönigin, die über die Sukkubi herrscht, auf dass sie deine Kinder regieren möge, in dieser Welt - und darüber hinaus!«
In ihrem Wahn
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