2012 - Schatten der Verdammnis
Kilometern pro Sekunde durch den Raum. Kannst du das spüren?«
»Worauf willst du hinaus?«
»Es gibt Dinge, die um uns herum geschehen, ohne dass unsere Sinne sie wahrnehmen können. Dennoch
existieren sie. Was ist, wenn diese Dinge einen Einfluss auf unser logisches Denken haben, auf unsere Fähigkeit, zwischen richtig und falsch zu wählen? Du glaubst an einen freien Willen, aber was bringt uns wirklich dazu, uns für etwas zu entscheiden? Als ich dich gefragt hab, ob du an das Böse glaubst, meinte ich mit dem Bösen eine unsichtbare Instanz, deren Vorhandensein unser Urteilsvermögen trüben könnte.«
»Ich weiß nicht recht, ob ich dir folgen kann.«
»Was bringt einen Teenager dazu, mit einer Uzi auf einen überfüllten Spielplatz zu feuern? Weshalb sperrt eine verzweifelte Mutter ihre kleinen Kinder in ihr Auto und lässt es in einen See rollen? Was bringt einen Mann dazu, seine Stieftochter zu vergewaltigen oder... oder einen geliebten Menschen zu ersticken?«
Sie sieht eine Träne in seinem Augenwinkel. »Du glaubst, es gibt eine böse Macht, die unser Verhalten beeinflusst, Mick?«
»Manchmal... manchmal glaube ich, ich kann tatsächlich etwas spüren.«
»Was kannst du spüren?«
»Ein Wesen. Manchmal spüre ich, wie seine eisigen Finger von einer höheren Dimension aus nach mir greifen. Und wenn ich das spüre, hab ich den Eindruck, dass etwas Furchtbares geschieht.«
»Mick, du warst elf Jahre lang vollständig isoliert. Da wäre es erstaunlich, wenn du keine Stimmen hören würdest...«
»Es sind keine Stimmen; es ist mehr wie ein sechster Sinn.« Er massiert sich die Augen.
Womöglich ist diese Fahrt ein großer Fehler. Er braucht Hilfe. Vielleicht steht er kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Dominique fühlt sich plötzlich sehr einsam.
»Du hältst mich für einen Psychopathen...«
»Das hab ich nicht gesagt.«
»Nein, aber du denkst es.« Er dreht sich um und
schaut sie an. »Die alten Maya glaubten, Gut und Böse seien physisch vorhanden. Sie glaubten, ihr großer Lehrer Kukulkan sei von einer bösen Macht verbannt worden, einem feindseligen Gott, den die Azteken Tezcatlipoca - rauchender Spiegel - nannten. Es heißt, Tezcatlipoca habe in die Seele der Menschen eindringen, sie täuschen und dazu bringen können, schlimme Grausamkeiten zu begehen.«
»Mick, das sind doch nur Maya-Legenden. Meine Großmutter hat mir dieselben Geschichten erzählt.«
»Es sind nicht nur Geschichten. Als Kukulkan starb, begannen die Maya zu Tausenden ihr eigenes Volk abzuschlach ten. Männer, Frauen und Kinder wurden bei blutigen Ritualen geopfert. Viele wurden zu dem Tempel auf der Spitze der Kukulkan-Pyramide gebracht, wo man ihnen das Herz aus der Brust schnitt. Unberührte Mädchen führte man auf dem uralten Weg, zum Heiligen Cenote und schlitzte ihnen dort die Kehle auf, bevor man sie ins Wasserbecken warf. Dabei hatten die Maya ein Jahrtausend lang in Frieden gelebt. Irgendetwas muss sie beeinflusst haben, wenn sie plötzlich damit anfingen, sich gegenseitig abzuschlachten.«
»Im Tagebuch deines Vaters steht, die Maya seien abergläubisch gewesen und hätten gemeint, mit den Opfern das Ende der Welt verhindern zu können.«
»Ja, aber das ist nicht alles. Auch der Kult von Tezcatlipoca soll die Grausamkeiten beeinflusst haben.«
»Nichts, was du mir bislang erzählt hast, beweist die Existenz des Bösen. Die Menschen bringen sich gegenseitig um, seit unsere Vorfahren von den Bäumen herabgestiegen sind. Die spanische Inquisition hat Tausende von Menschen auf dem Gewissen, die Nazis haben sechs Millionen Juden vergast. In Afrika kommt es ständig zu neuen Gewalttätigkeiten. Im Kosovo haben die Serben Tausende von Albanern umgebracht...«
»Das ist genau der springende Punkt. Der Mensch ist
schwach und lässt zu, dass sein freier Wille von äußeren Einflüssen korrumpiert wird. Die Beweise dafür finden sich überall.«
»Was für Beweise?«
»Die Fäulnis breitet sich über die unschuldigsten Mitglieder der Gesellschaft aus. Kinder benutzen ihre Entscheidungsfreiheit, um Grausamkeiten zu begehen, weil ihr Bewusstsein nicht in der Lage ist, den Unterschied zwischen richtig und falsch, zwischen Realität und Fantasie zu begreifen. Vor ein paar Tagen hab ich auf CNN einen Bericht über einen Zehnjährigen gesehen, der die automatische Waffe seines Vaters mit in die Schule genommen und zwei Jungen ermordet hat, von denen er gehänselt wurde.« Mick blickt hinaus aufs Meer. Seine Augen
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