Honky Tonk Pirates - Das verheißene Land - Band 1
HÖLLENHUND WILL
W enn man in einem lichtlosen, stinkenden Keller eine Kerze anzündet, verziehen sich die Asseln, Kakerlaken und Ratten durch Löcher und Ritzen an einen Ort, an den selbst das Feuer der Hölle nicht mehr vordringen kann. Dieser Ort heißt Berlin. Berlin, am 5. November des Jahres 1760, im vierten Winter dieses von Gott und Teufel verfluchten Krieges, in dem es jetzt schon seit zwei Wochen nicht mehr richtig hell werden wollte. Lumpengrau hingen die Wolken in den engen Straßen und Gassen. Ein nebliger Nieselregen, der sich durch alles hindurchfraß: durch Fenster, durch Wände, durch Kleider und bis unter die Haut, wo er sich mit Angstschweiß vermischte. Denn Angst war das einzige Gefühl, das in dieser Stadt existierte und das dieses arme, verzweifelte Pack, das sich in ihren Mauern vor den Russen versteckte, am Leben hielt.
Doch die Angst vor dem Tod reicht zum Leben nicht aus. Dazu braucht man mehr. Man braucht einen Traum. Einen Traum, den man um jeden Preis dieser Welt wahr werden lassen will. Genau so einen Traum lebte Willfried Zacharias Karl Otto Stupps und dieser 14-jährige Junge gab einen Flitzfliegenschiss darauf, dass sein Traum weder zu seinem Alter noch zu seinem Namen oder der Stadt passen wollte, in der er lebte.
Ja,Will lebte, während alle um ihn herum nur versuchten, irgendwie zu überleben. Und weil das so war, nahm er sein Schicksal selbst in die Hand: jeden Tag, jede Nacht und auch am Abend dieses 5. Novembers, an dem er genau zu der Stunde, in der es offiziell dunkel wurde, in der sich der lichtlose Höllentag in die lichtlose Höllennacht verwandelte, auf Beutezug ging. Aber genau in so einer Nacht fühlte sich Willfried Zacharias Karl Otto Stupps erst richtig zu Hause.
Er tanzte durch den Regen. Er sprang über die buckligen, windschiefen Dächer der Stadt, als wär es ein Gischt spritzendes, stürmisches Meer. Und wie ein Adler die Wolken als Deckung benutzt, glitt er durch den eisigen Nebel, bis er in den Schluchten der Straßen und Gassen auf sein Opfer stieß.
»Eulenfels.« Will grinste und wischte sich mit einer verwegenen Geste den Rotz von der Nase. »Du mieser Sohn einer übergewichtigen Qualle. Dir hab ich schon seit Tagen kein Gold mehr aus der Tasche stibitzt.«
Er blies die fransigen Haarsträhnen aus dem frechen, sommersprossigen Gesicht, holte tief Luft, ließ sich auf den Allerwertesten fallen und rutschte auf ihm und der ledernen Schürze, die er für solche Manöver trug, die Dachschräge hinab. Dort nutzte er die Gaube des Daches als Schanze und sprang in zehn Metern Höhe über die enge, kopfsteingepflasterte Gasse hinweg auf das gegenüberliegende Haus.
Wunderwind wirbeliger Augenblick!, dachte der Junge und lachte. Er legte sich flach vor den Giebel, sodass man nur seinen strohblonden Haarschopf und die himmelhellblauen Augen über den First hinweglugen sah, und beobachtete, wie die aus purem Silber bestehende Sänfte von zwei Dutzend in goldweiße
Livreen gekleideten Dienern aus der Gasse heraus und auf den Platz getragen wurde.
Dort tauchte sie ein in ein Meer aus hungrigen, frierenden und vor Dreck starrenden Menschen. Die hatten sich vor den plündernden Russen in die Hauptstadt gerettet und hofften darauf, dass sie der König von Preußen mit Nahrung versorgen würde. Doch der König war weg, sein Heer war besiegt, und der, der jetzt für ihn in der Stadt regierte, hieß Eulenfels: Freiherr von Eulenfels, der Geheime Minister des Reichs.
Will ließ die Sänfte nicht aus den Augen.An einem Seil, von denen er viele überall auf den Dächern der Stadt versteckt oder angebracht hatte, ließ er sich auf den Marktplatz hinab und mischte sich ins Gedränge der Menschen, die sich wie ein Strudel um Eulenfels’ Sänfte zusammenzogen. Stumm, mit eingefallenen Wangen und riesigen Augen, stapften sie durch den aufgeweichten Boden des Mittelmarkts und umschlossen Eulenfels’ Sänfte wie eine mächtige Python, deren hungriger Körper im Begriff war, sich um die letzte Ratte zu wickeln, die es auf dieser Welt gab.
Ja, macht ihn fertig!, schoss es Will durch den Kopf.Wir sind viel mehr und wir sind im Recht. Ohne uns kann dieser Fettsack keinen Tag überleben!
Für einen wundersamen Augenblick fühlte sich der Junge mit den wildfremden Menschen auf dem Platz eins. Sie sahen so aus wie er. Nasse Haare trieften unter durchnässten Mützen heraus. Aschgraue Wolljacken klebten auf den geflickten Hemden aus dreckigem Leinen. Die Beinkleider waren von
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