206 - Unterirdisch
Enkaari ihren Fortbestand verdankten: Arah, durch die die Göttin spricht, Carah die Weise, und Barah, die wilde Jägerin.
Diese Drei hielten das Volk zusammen und organisierten das Leben in den Minen. Sie waren es auch, die dafür sorgten, dass Athikaya ein Tempel errichtet wurde. Tief in den Minen huldigten die Enkaari dort ihrer Göttin. Als Arah, Carah und Barah starben, wählte das Volk drei neue Führerinnen, die den Geist der Verstorbenen in sich aufnahmen und nach ihnen benannt wurden. Bis zum heutigen Tage hielt sich diese Tradition, und vermutlich würde sich das auch die nächsten hundert Jahre nicht ändern.
Aber vieles andere hatte sich geändert: Die Erde hatte beim Großen Beben die Minen unter sich begraben. Dort, wo sie einst waren, wucherte jetzt dichter Dschungel. Die Enkaari siedelten auf der Ebene am Fluss. Sie überließen es der Priesterin und ihren Novizinnen, die Göttin zu ehren. Und die Stadtführerin entfernte sich mehr und mehr von den traditionellen Riten.
Das alles würde sich bald ändern! Arahs Blick glitt über die Siedlung. In der Ferne begrenzte das silberne Band des Athis die Ebene. Die grauen Augen der Priesterin suchten nach der Fabrik am unteren Flusslauf. Dabei fuhr ein stechender Schmerz durch ihren Kopf. Sie griff sich an die Stirn. Das müssen nicht die tödlichen Geschwüre sein!, beruhigte sie sich selbst. Mir fehlt einfach nur Schlaf!
Nacht für Nacht schreckte sie aus ihren Träumen. Träume von wilden Bestien, die Nyaroby überfielen. Und Träume vom Tempel der Göttin. Darin sah sie sich selbst die Feuer unter der Erde entfachen. Feuer zur Ehre der Göttin. Athikaya hat etwas Großes mit mir vor! Sie will, dass ich die alte Verbindung zwischen Wasser und Erde wieder herstelle. Dass ich ihre Macht neu auferstehen lasse! Der Tod, der an ihre Lebenstür klopfte, würde noch warten müssen. Noch hatte sie ihre Aufgabe nicht erfüllt!
***
Eine Woche lang pflügte der Rouler nun schon durch die Savanne. Die Kettenschuhe wühlten sich durch den trockenen Grasboden, Erdfontänen spritzten hinter dem dampfgetriebenen Fahrzeug in hohem Bogen ins Gras. Manchmal jagte eine Herde gehörnter, antilopenartiger Tiere vor ihnen her, manchmal flatterte ein Vogelschwarm auf. Von Tag zu Tag schien es heißer zu werden.
Wenn Matthew Drax sich umdrehte und am Kessel vorbei hinweg in die Savanne spähte, sah er die Dampffahne des Roulers und seine breite Spur: Wie die Furche eines Pfluges zog sie sich bis zum östlichen Horizont durch das Grasland.
Darüber stiegen – zumindest auf den ersten fünfhundert Metern – kleine Dampfwölkchen in den Himmel. Sollte sich jemand in den Kopf gesetzt haben, uns zu verfolgen, wird ihm das mühelos gelingen, dachte er.
Auszuschließen war es nicht, dass Badaar, der Herrscher des Wüstenvolkes im ehemaligen Somalia, ihnen seine schwarzen Punkkrieger hinterher schickte. Matt Drax traute den Kasanjas jede Kriegslist zu. [1]
Chira auf der Rückbank hockte meistens auf den Hinterläufen und hechelte. Sie äugte dann nach allen Seiten und lauerte auf jede Bewegung im hohen Gras. Immer wenn der Dampfrouler eine Herde Antilopenartiger aufscheuchte, sprang sie auf und begann zu knurren und zu kläffen.
Einmal, als eine Herde auseinander stob und ein offensichtlich geschwächter Bock zurückblieb, sprang sie aus dem Rouler und verschwand im Elefantengras. Kurz darauf verschwand auch der Gehörnte zwischen den Halmen. Rulfan drosselte daraufhin die Dampfmaschine, und der Rouler tuckerte fast zwei Stunden lang nur im Schritttempo durch die Savanne. Irgendwann tauchte dann Chira hinter ihnen im Gras auf, sprang auf den Rücksitz und streckte sich zum Verdauungsschlaf aus.
Der Wind wehte aus südlicher Richtung. In ihm bog sich das Elefantengras, richtete sich auf und bog sich erneut.
Manchmal, wenn Matt Drax das monotone Schauspiel lang genug betrachtet hatte, gelang es ihm, sich vorzustellen, er würde auf einem Segler durch ein gelbgrünes Meer rauschen.
Ein Stein, über den der Dampfrouler fuhr, oder eine Kuhle die er durchquerte und die Matt und Rulfan von den Sitzen hob, holte ihn regelmäßig in die Wirklichkeit des Graslandes zurück.
Sie wechselten sich ab: Mal steuerte Rulfan und Matt bediente Kessel und Armaturen, mal hielt Matt Drax den Kurs und der Albino machte den Maschinisten. Am Bügel des Rückspiegels baumelte an einem Lederband ein rubinroter Stein. Der Talisman war ein Abschiedsgeschenk Albas’
gewesen. Mit ihm, dem tapferen
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