Nekropole (German Edition)
Kapitel 1
Manche nannten Rom die Ewige Stadt, doch Andrej hatte nie wirklich verstanden, warum. Für die einen war sie ein Moloch, der zum Leben erwacht war und die Menschen nur noch brauchte, um immer weiterzuwachsen und dem Verfall Einhalt zu gebieten, für andere war sie der Ort auf Erden, an dem der Mensch in seiner sterblichen Form Gott am nächsten kommen konnte. Und schließlich gab es da noch die, für die diese Stadt das Zentrum des reinen Bösen auf der Welt darstellte, der Ort, an dem der Mensch seine Raffinesse zur Perfektion getrieben hatte, seinen eigenen Machtanspruch mit dem angeblichen Willen eines Gottes zu untermauern, der von seiner Existenz vermutlich ebenso wenig Notiz nahm wie der Mensch von dem Gras, das er achtlos unter seinen Schritten zertrat.
Für Andrej war sie vor allem eines: schmutzig. Der Tiber war eine Kloake, gespeist aus unzähligen Abwasserkanälen, voller Dreck und Unrat, den die Bewohner hier bedenkenlos entsorgten. Andrej hatte vergessen, wie Städte riechen, aber während ihrer kriechend langsamen Fahrt über die Lebensader Roms Richtung Isola Tiberina erinnerte er sich wieder, warum Abu Dun und er es vorzogen, sich in der Wüste oder den endlosen Steppen des Ostens oder in der Einsamkeit des Gebirges aufzuhalten.
Rom
stank.
Alle westlichen Städte, in denen er jemals gewesen war, stanken buchstäblich zum Himmel, und Rom machte da keine Ausnahme. Vielleicht hatte er von dieser ganz besonderen Stadt ja auch etwas ganz Besonderes erwartet, oder der Grund für ihre Reise hatte ihm eine Wichtigkeit suggeriert, die es nicht gab … oder die banale Wahrheit war einfach die, dass sie zu lange auf hoher See gewesen waren, um den Geruch zu vieler Menschen, die viel zu lange Zeit auf viel zu wenig Platz zusammengelebt hatten, ignorieren oder auch nur ertragen zu können. Geschweige denn, es zu
wollen.
»Was für ein paradiesisches Fleckchen Erde, Sahib«, sagte Abu Dun, als er neben ihn trat und sich so schwer auf das altersschwache Holz der Reling stützte, dass Andrej ein Ächzen zu hören meinte, das durch den gesamten Schiffsrumpf lief. Beinahe glaubte er zu spüren, wie sich das Schiff unter Abu Duns Gewicht auf die Seite legte.
»Endlich verstehe ich, warum du immer von dieser prachtvollsten aller Städte geschwärmt hast, Sahib! All diese wunderschönen Gebäude und Paläste, diese wohlgenährten und gutgekleideten Menschen! Und dieser himmlische Duft! Ich muss dir Abbitte leisten, für alles, was ich insgeheim über deine Schwärmerei für diese Stadt gedacht habe!«
Andrej hütete sich zu widersprechen, schon weil das nur einen weiteren, endlosen Redeschwall zur Folge gehabt hätte. Außerdem hatte Abu Dun recht. Über den Geruch hatte er schon hinlänglich nachgedacht – auch wenn die Worte des nubischen Riesen ihn noch einmal schlimmer gemacht zu haben schienen –, und die Gebäude, die zumindest den Teil der Stadt beherrschten, in den die
Pestmond
einlief, hätten in den allermeisten anderen Städten wohl eher unter dem Begriff
Ruine
rangiert. Und was die gut gekleideten und fröhlichen Menschen anging, von denen Abu Dun sprach, so waren dies gerade jetzt nur drei abgerissene Gestalten, die unweit ihres angepeilten Liegeplatzes herumlungerten und das Schiff mit einer Mischung aus Neugier und kaum verhohlener Verschlagenheit musterten.
Andrej überlegte einen Moment, ob es sich eher um Herumtreiber, Tagelöhner auf der Suche nach Arbeit oder Diebe und Halsabschneider auf der Suche nach Beute handelte, und kam dann zu dem Schluss, dass das möglicherweise gar keinen Unterschied machte. Vielleicht gingen sie ja einfach unterschiedlichen Tätigkeiten nach, bei unterschiedlichen Gelegenheiten.
Andrej warf den Burschen einen möglichst finsteren Blick zu, um sie von dummen Ideen abzubringen – oder besser noch, gar nicht erst darauf kommen zu lassen –, zeitigte damit aber keinen sichtbaren Erfolg. Die Männer sahen weiter dem näher kommenden Schiff entgegen, und nun, da Abu Dun neben ihm aufgetaucht war, konzentrierte sich ihr Blick vor allem auf den schwarz gekleideten nubischen Koloss. Das an sich war nichts Ungewöhnliches. Wo immer sie gemeinsam auftauchten, starrten die Leute den nubischen Riesen an. Auch Andrej war alles andere als klein oder gar schmächtig, doch der stets schwarz gekleidete und dunkelhäutige Riese war einer der größten Männer, denen er jemals begegnet war, und der mit Abstand stärkste. Jetzt kam auch noch seine künstliche Hand hinzu,
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