2084 - Noras Welt (German Edition)
Formulierung aus dem Artikel und googelte danach. Die Formulierung lautete: »Wie weit ist unser ethischer Horizont?« Nach weniger als einer Sekunde tauchte der gesuchte Artikel im Display auf. Sie las:
Wie weit ist unser ethischer Horizont? Am Ende ist das eine Frage der Identität. Was ist ein Mensch? Und wer bin ich? Wenn ich nur ich selbst wäre (der Körper, der hier sitzt und schreibt), wäre ich ein Geschöpf ohne Hoffnung – auf lange Sicht betrachtet. Aber ich besitze noch eine andere, tiefere Identität als meinen Körper und mein kurzes Leben auf der Erde. Ich bin ein Teil – ein aktiver Teil – von etwas, das größer ist als ich selbst.
Hätte ich die Wahl, hier und jetzt mit der Garantie zu sterben, dass die Menschheit noch viele Jahrtausende überleben wird, oder bei guter Gesundheit hundert Jahre alt zu werden, aber die gesamte Menschheit mit in den Tod zu nehmen – ich würde keinen Augenblick zögern. Ich würde hier und jetzt sterben wollen – und es wäre deshalb kein Opfer, weil etwas von dem, was ich in Gedanken »ich« nenne, von der gesamten Menschheit repräsentiert wird. Ich habe Angst, diesen Menschheitsteil meiner selbst zu verlieren. Die bloße Vorstellung, dass es passieren könnte, macht mir eine Höllenangst. Ich habe größere Angst davor, die Menschheit könnte in hundert oder tausend Jahren vergehen, als davor, dass mein Körper im nächsten Augenblick sozusagen seinen Hut nimmt – irgendwann nämlich wird er das in jedem Fall tun.
Es kommt auch vor, dass ich an den ganzen Planeten denke, auf dem ich lebe. Auch der ist »ich«. Und sein Schicksal ist mir wichtig, weil ich nicht den allerinnersten Kern meiner Identität verlieren will.
Es stand nicht dabei, von wem dieser Text stammte, und Nora blieb noch einen Augenblick stehen, um zu überlegen, um wen es sich wohl handeln könnte. War es eine Frau, oder konnte es auch ein Mann sein? Dann musste sie lachen. Es ging in dem Text doch gerade darum, etwas Größeres und Mächtigeres zu sein als ein einzelnes Selbst.
Vielleicht war der Text ja ganz bewusst nicht gezeichnet!
DER PLANET
Zusammen mit dem jungen Araber sitzt sie in einem Raumschiff. Sie haben einen internationalen Preis für ihren Einsatz um das Wohl ihres Planeten gewonnen, und der Preis besteht aus zehn Erdumrundungen in einer kleinen Raumfähre.
Sie sind allein in der winzigen Kabine. An die Technik brauchen sie nicht zu denken. Alles wird von Computern gelenkt und kontrolliert; sie können sich zurücklehnen und die Reise genießen.
Sie schauen hinunter auf den Planeten. Beide erinnern sich an Bilder, die sie früher gesehen haben, Bilder eines blau-grünen Erdballs, die vor über hundert Jahren während des Apolloprogramms aufgenommen worden waren. Jetzt erkennen sie diesen Erdball kaum wieder. Vom Weltraum aus ist besonders deutlich zu sehen, dass er viel mehr von Wolken bedeckt und von Unwettern überzogen ist als zu jener Zeit, und was sie sehen, passt zu dem, was sie von unten auf der Erde aus eigener Anschauung kennen. Der Planet, der vor hundert Jahren aussah wie eine bunt schimmernde Murmel, ähnelt jetzt eher einem farblosen Wollknäuel.
Den Wolken und Unwettern zum Trotz ist es ein unbeschreibliches Erlebnis, hier draußen im Weltraum zu sein, und bei genauem Hinsehen können sie hier und da doch noch ein paar grüne, braune und blaue Flecken erkennen. Dort ist Afrika, und da kommen Indien, China, Japan …
Worüber sie am allermeisten staunt, ist die Stille. Das Einzige, was sie hören kann, ist der Atem ihres Reisebegleiters. Sie glaubt außerdem, sein Herz schlagen zu hören. Oder ist es ihr eigenes?
Der junge Araber schaut sie immer wieder an und lächelt.
»Du bist so schön«, sagt er, und sie ist verlegen und schaut hinunter auf den Planeten, von dem sie kommen. Sie sieht den Erdball, der sie geschaffen hat, und sie wünschte sich, sie könnte das Kompliment sozusagen weiterreichen und antworten, dass sie ja auch von einem schönen Planeten stammt. Tatsächlich war die Erde ja wirklich einmal traumhaft schön.
Kein Mensch auf der Welt kann sie jetzt sehen. Sie sind ganz und gar sich selbst und einander überlassen. Auf dieser gemeinsamen Reise sind sie wie aus der Welt gefallen. Sie überlegt sich, dass es vielleicht keine intimere Weise gibt, mit jemandem, den man gernhat, zusammen zu sein, als in einer kleinen Weltraumfähre.
Hier oben im Weltraum dauern Tag und Nacht zusammen nur zwei Stunden. Aber sie haben zwölf
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