21 - Die achte Flotte
positiv ausgedrückt, zumindest, was Oligarchen im Allgemeinen betraf. Noch waren furchtbar viele Beweise nötig, ehe Helga Boltitz und der Rest von Dresden sich überzeugen ließen, dass die Beteuerungen des selbstlosen Patriotismus, die man neuerdings hier in Talbott − oder auch im Manticore-System − in außerordentlich wohlhabenden Ecken vernahm, aufrichtig waren. Zwar hatte Gervais sie nicht zu einem plötzlichen Bewusstseinswandel animiert, durch den sie begriffen hätte, dass sie Menschen wie Paul Van Scheldt ihr ganzes Leben lang falsch eingeschätzt hatte. Immerhin aber hatte er sie doch überzeugen können, dass zumindest einige manticoranische Aristokraten mit den Oligarchen des Talbott-Sternhaufens überhaupt nicht zu vergleichen waren. Natürlich hatte sie mittlerweile auch einräumen müssen, dass nicht alle Oligarchen aus dem Talbott-Sternhaufen sich wie die typischen Oligarchen aus dem Talbott-Sternhaufen verhielten. Auch wenn sie sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt hatte. Trotzdem hatte sie es zugeben müssen, zumindest in der Abgeschiedenheit ihrer eigenen Gedanken.
Das Universum wäre so viel angenehmer, wenn man seine vorgefassten Meinungen nie infrage stellen müsste, überlegte sie.
Leider − oder vielleicht auch zum Glück − konnten die Vorurteile nicht immer bestehen bleiben.
Sie hatte bereits hinnehmen müssen, dass jemand wie Premierminister Alquezar oder Bernardus Van Dort ganz anders war als ein Wurmfresser wie Van Scheldt. Da hatte Henri Krietzmann recht gehabt. Sie begriffen zwar noch immer nicht, was jemand wie Helga oder Krietzmann hatten erleiden müssen, aber wenigstens wussten sie, dass sie es nicht verstanden, und gaben sich Mühe. Und so gern sie an dem Glauben festgehalten hätte, dass Van Dorts Beweggründe für die Anschlusskampagne rein selbstsüchtiger Natur waren, nachdem sie beobachtet hatte, wie er mit Krietzmann und anderen Angehörigen der neu gewählten Regierung Alquezar zusammenarbeitete, war ihr doch nichts anderes übrig geblieben, als ihm das Gegenteil zuzugestehen.
Nicht dass es nicht genügend Rembrandter gäbe, die ganz wie Van Scheldt sind, dachte sie wütend. Und auch hier im Spindle-System finden sie mehr als genug Gesinnungsgenossen.
Und dann war da Lieutenant Gervais Winton Erwin Neville Archer. Obwohl er es bestritt, gehörte er dem manticoranischen Adel an. Sie wusste es, weil sie es eigens im Clarke’s Peerage nachgeschlagen hatte. Die Archers waren eine sehr alte manticoranische Familie aus der ersten Siedlerwelle, und Sir Roger Mackley Archer, Gervais’ Vater, war nicht nur unermesslich reich (jedenfalls nach Dresdener Standards), sondern auch vierter Anwärter auf die Baronie Eastwood. Givens war außerdem ein entfernter Verwandter Königin Elisabeths III. von Manticore (Helga hatte es fast unmöglich gefunden, die komplizierten genealogischen Tabellen zu entschlüsseln, die den genauen Verwandtschaftsgrad beschrieben, aber sie nahm an, die passende Umschreibung lautete wahrscheinlich »sehr entfernt«). Für jemanden aus den Elendsvierteln von Schulberg qualifizierte ihn das als Aristokraten. Und in dem Universum, das ihr einmal so herrlich vertraut gewesen war, hätte er sich dessen genauso deutlich bewusst sein müssen, wie sie es war.
Wenn dem so war, dann verbarg er es bemerkenswert gut.
Er war jünger, als sie zuerst angenommen hatte, nur vier T-Jahre älter als sie, und sie fragte sich manchmal, ob er sein gewaltiges Selbstbewusstsein nicht doch dem Umstand verdankte, dass er sich tief drinnen genau der Vorteile bewusst war, die ihm dank seiner Abstammung zustanden. In der Regel kam sie jedoch zu dem Schluss, dass er eben so und nicht anders war. Er machte praktisch kein Aufheben um sich, und sein unbeschwerter Spott über aristokratische Stereotypen schien vollkommen echt.
Und im Gegensatz zu gewissen Kretins namens Van Scheldt schuftet er sich den Buckel krumm.
Bei dem Gedanken spannte sich ihr Mund ganz leicht an.
»Darf ich annehmen, dass für Ihre Frage nach einem Lunchtermin ein offizieller Anlass besteht?«, fragte sie ihn, und sein Lächeln verschwand.
»Ich fürchte ja«, gab er zu. »Nicht dass ich«, fügte er mit wieder aufkeimendem Humor hinzu, »je so taktlos wäre, so etwas zuzugeben, ohne dass man mich dazu zwingt.« Der heitere Funke erlosch wieder, und er hob die Schultern. »Leider muss ich sagen, dass ich mit Ihnen ein paar Einzelheiten der Termine von morgen besprechen möchte. Weil ich weiß,
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