21 - Im Reiche des silbernen Löwen II
Patientin traf ich eine über hundert Jahre alte Ahne von ihr, namens Marah Durimeh, welche früher Meleka (Königin) gewesen war und mir infolge dieser glücklichen Kur eine Dankbarkeit widmete, deren ungeahnte Wichtigkeit für mich ich dann später zu meinem größten Vorteile erkennen sollte. Mein damaliges Zusammentreffen mit dem Ruh 'i Kulyan, dem segenspendenden ‚Geist der Höhle‘, war nicht nur ein für unsere damalige Reise wichtiges Erlebnis, sondern hat auch für mein inneres Leben Folgen gehabt, die mir bis auf den heutigen Tag unschätzbar geblieben sind. Ich bitte, dieses Kapitel nachzuschlagen und noch einmal zu lesen, damit das, was ich jetzt zu berichten habe, den notwendigen Zusammenhang gewinnt! Zugleich will ich bei dieser Gelegenheit bemerken, daß ich über mein viertes und letztes Zusammentreffen mit Marah Durimeh ein besonderes Buch schreiben werde, weil diese Begegnung von einem so tiefen und nachhaltigen Einfluß auf die Richtung und den Inhalt meines Seelenlebens gewesen ist, daß ich herzlich wünsche, meinen lieben Lesern von diesen aus dem irdischen Leben in die Ewigkeit hinüberreifenden Früchten anbieten zu dürfen.
Also an diese alte, mir so teuer gewordene Abkömmlingin von Königen mußte ich jetzt denken. Nie vorher im Leben und auch nicht nachher habe ich eine Person gefunden, welche mir so ehrwürdig, beinahe möchte ich sagen, so heilig erschienen wäre wie diese mit ihrem Geist schon mehr im Jenseits als im Diesseits weilende Greisin. Nur ihre wohltätige Menschenliebe, ihre segenspendende Barmherzigkeit gehörten noch der Erde an, sonst aber zählte sie zu denen, welche hinübergegangen sind nach den ‚Wohnungen in meines Vaters Haus‘, von denen Christus spricht. Ich hatte damals für dieses Leben von ihr Abschied genommen, doch lebte sie so ethisch rein, so geistig klar und hoch, wie ich sie kennengelernt hatte, in meinem Herzen fort. Und nun schien es, als ob ich sie gegen alles Erwarten jetzt wiedersehen sollte! Aber war sie es denn wirklich, war es keine andere? Adsy hatte von einer uralten Frau gesprochen, deren Jahre man gar nicht zählen könne. Das stimmte. Auch seine übrigen Bemerkungen konnten sich eher auf sie als auf eine andere, uns noch unbekannte greise Frau beziehen, obgleich das Wort es Sahira, die Zauberin, nicht auf Marah Durimeh paßte. Doch war diese Bezeichnung wohl nur die Folge des niedrigen Standpunktes, von welchem aus sie von den Kurden betrachtet und beurteilt wurde. Ihnen kam das ganze Wesen und Tun der Alten fremd und unbegreiflich vor, und was dem Naturmenschen unbegreiflich erscheint, das pflegt er am liebsten mit dem Begriff der Zauberei zu erledigen. Es war ja, wie ich schon zu Halef gesagt hatte, möglich, daß wir diese Zauberin noch nie gesehen hatten, aber es lag nicht nur eine Ahnung, sondern wie eine Überzeugung in mir, daß uns diese Begegnung mit unserm ‚Geist der Höhle‘ zusammenführen werde. Bei diesem Gedanken stiegen die damaligen Erlebnisse wieder in mir auf, jene Kämpfe bei den Teufelsanbetern und bei den mohammedanischen und christlichen Anwohnern des Zabflusses, besonders mein Aufstieg nach der geheimnisvollen Höhle des Ruh 'i Kulyan und mein mehrmaliges Gespräch mit diesem Geist. Es fielen mir die Worte des Melek ein: „Sie wird dich morgen nach der Zeit des Mittags in meinem Haus besuchen, denn sie hat dich lieb, als ob du ihr Sohn oder ihr Enkel seist.“ Und dann, als sie am andern Tage mit mir in ungestörter, weihevoller Einsamkeit oben am Berg saß, erklang es aus ihrem Mund:
„Herr, blicke auf, dahin zwischen Süd und Ost! Diese Sonne bringt Frühling und Herbst, bringt Sommer und Winter; ihre Jahre sind mehr als hundertmal über mein Haupt gegangen. Siehe dieses Haupt an! Es hat nicht mehr das Grau des Alters, sondern das Weiß des Todes. Ich sagte dir bereits in Amadijah, daß ich nicht mehr lebe, und ich habe die Wahrheit gesprochen; ich bin ein – Geist, der Ruh 'i Kulyan.“
Sie hielt inne. Ihre Stimme klang dumpf und hohl, wie wirklich aus dem Grab heraus; aber sie vibrierte doch wie unter der Regung eines lebendigen Herzens, und die Augen, welche auf das Gestirn des Tages gerichtet waren, zeigten einen feuchten Glanz tiefer, seelischer Rührung.
„Ich habe viel gehört und viel gesehen“, fuhr sie fort. „Ich sah den Hohen fallen und den Niederen emporsteigen; ich sah den Bösen triumphieren und den Guten zuschanden werden; ich hörte den Glücklichen weinen und den Unglücklichen
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