21 - Im Reiche des silbernen Löwen II
jubeln. Die Gebeine des Mutigen zitterten vor Angst, und der Zaghafte fühlte den Mut des Löwen in seinen Adern. Ich weinte und lachte mit; ich stieg und sank mit – dann kam die Zeit, in der ich denken lernte. Da fand ich, daß ein großer Gott das All regiert und daß ein liebender Vater alle bei der Hand hält, den Reichen und den Armen, den Jubelnden und den Weinenden. Aber viele sind abgefallen von ihm; sie lachen über ihn. Und noch andre nennen sich zwar seine Kinder, aber sie sind dennoch die Kinder dessen, der in der Dschehennah, in der Hölle, wohnt. Darum geht ein großes, ein gewaltiges Leid hin über die Erde und über die Menschen, die sich nicht von Gott strafen lassen wollen. Und doch kann keine zweite Sündflut kommen, denn Gott würde keinen Noah finden, welcher der Vater eines besseren, eines wohlgefälligeren Geschlechtes werden könnte.“
Sie machte eine neue Pause. Ihre Worte, der Ton ihrer Stimme, dieses tote und doch so sprechende Auge, ihre langsamen, müden und doch so bezeichnenden Gesten machten einen tiefen Eindruck auf mich. Ich begann, die geistige Herrschaft zu begreifen, welche diese Frau auf die intellektuell armen Bewohner der Gegend, in welcher sie lebte, ausübte. Sie fuhr fort:
„Meine Seele zitterte, und mein Herz wollte brechen; das arme Volk erbarmte mich. Ich war reich, sehr reich an irdischen Gütern, und in meinem Herzen lebte der Gott, den sie verworfen hatten. Mein Leben starb, aber dieser Gott starb nicht mit. Er berief mich, seine Dienerin zu sein. Und nun wandere ich von Ort zu Ort, mit dem Stab des Glaubens in der Hand, um zu reden und zu predigen von dem Allmächtigen und Allgütigen, dem Allweisen und Allbarmherzigen, nicht mit Worten, die man verlachen würde, sondern mit Taten, die segnend auf jene fallen, welche der Gnade des Vaters bedürftig sind. Die alte Marah Durimeh und der Ruh 'i Kulyan sind dir ein Rätsel gewesen; sind sie es dir auch jetzt noch, mein Sohn? Oder beginnst du, mich zu begreifen?“
Ja, ich begann damals, sie zu verstehen, und je länger ich an sie dachte, desto mehr wurde mir ihr Wesen und ihr Wollen klar. Sie war eine in menschlicher Gestalt wirkende Hand Gottes, welche sich in überquellender, erbarmender Liebe ausstreckt, die Irrenden zurechtzuweisen und die Abgefallenen zurückzuführen zum Heil, welches allen Menschen und nicht etwa nur wenigen Auserwählten beschieden ist. Indem sie nicht mehr der Erde angehörte, gehörte sie in ihrer reichen Liebe der ganzen Menschheit an!
So lag ich da, ganz in mich versunken, und sah ihre Gestalt so deutlich vor meinem geistigen Auge stehen, als ob sie in Wirklichkeit anwesend wäre. Die Stimme des erzählenden Hadschi klang nur wie ein fernes Murmeln an mein äußeres Ohr; das innere war ihr verschlossen. Ich hörte Marah Durimeh noch damals zum Abschiede sagen: „Mein Sohn, wenn du dieses Tal verlassen hast, so wird mein Auge dich nie wiedersehen, aber der Ruh 'i Kulyan wird für dich beten und dich segnen, bis diese seine Augen, welche du jetzt offen siehst, sich für hier geschlossen haben!“ Indem ich in meinem Innern diese Worte hörte, breitete sie die Hände segnend über mich aus; ein wonniges Gefühl des Glücks, des Friedens zog in mir ein; ich schloß die Augen zum Schlaf und wurde unendlichen, lichten Fernen entgegengetragen, die nur der Traum, nicht aber das wachende Auge kennt.
„Sihdi, wach auf; erhebe dich! Es ist längst hell, und die Hamawandi-Krieger werden bald kommen!“
Als ich auf diesen Ruf des kleinen Hadschi erwachte, sah ich, daß ich der einzige war, der noch gelegen hatte. Der Morgen war fast schon eine Stunde alt, und so sprang ich auf, mich meiner Langschläfrigkeit beinahe schämend.
Halef saß mit den Kurden beim Frühmahl; sie aßen dünne Brotfladen, welche in der Weise zubereitet werden, daß man die breitgearbeiteten Teigstücke an die Wände des primitiven Backofens klebt, von denen sie von selbst herunterfallen, sobald sie ausgebacken sind. Ich wurde, als ich mich im Bach gewaschen hatte, eingeladen, an diesem lukullischen Frühstück teilzunehmen.
Wir hatten es eben beendet, als wir die erwarteten Krieger in der Krümmung des Seitentales erscheinen sahen. Sie stutzten bei unserm Anblick, denn sie hatten nicht erwartet, die sechs Stammesgenossen noch hier zu finden, zumal in Gesellschaft zweier fremder Männer, aus deren Kleidung schon zu schließen war, daß sie keine Kurden seien.
Ich übergehe die Szene der Begrüßung, welche nun
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