2110 - Der Gute Geist von Wassermal
war nicht mal ein kläglicher Rest geblieben. Sie war zu sehr Göttin, als dass ich gewagt hätte, Hand an sie zu legen.
Aber sie hatte gesagt, sie wolle sich mit mir vermählen - und sie sah so aus, als würde sie alles bekommen, was sie wollte.
Warum also sagte sie mir nicht, wohin wir gehen mussten, um uns zu lieben? Um im Rausch unserer Gefühle den Verstand zu verlieren und dem Höhepunkt der Erfüllung entgegenzustürmen?
„Ich will dir sagen, was geschehen wird mit uns", sagte Tagira in die Stille hinein. „Wir werden uns vermählen - und du wirst erleben, wie wir in unvorstellbarem Glück miteinander verschmelzen."
Und wie soll ich mir das vorstellen?
„Es wird sich alles ergeben, wenn es so weit ist. Aber das Glück wird keinen ewigen Bestand haben. Unserer Vermählung werden zwei Kinder entspringen - und ich werde dann zu sterben beginnen."
„Unsinn!", hörte ich mich aufbegehren. „Eine Göttin stirbt niemals!"
„Alles, was ist, wird vergehen", sagte sie. „Ich sterbe zwar nicht sofort, sondern erst nach tausend oder zweitausend Jahren - wer weiß. Während dieser Frist werde ich weiterhin als Guter Geist über die Galaxis Wassermal wachen, so, wie es meine Verpflichtung seit ewigen Zeiten ist."
„Tausend oder zweitausend Jahre mit dir! Was wollen wir mehr, Tagira?"
„Du verstehst nicht", erwiderte sie. „Wir verbringen diese Frist nicht gemeinsam. Während ich über Wassermal wache, wirst du mit der Feste Tagirathem und unseren gemeinsamen Kindern in den Kosmos hinausziehen. Du wirst es sein, der unsere Kinder auf den rechten Weg bringt. Der sie erzieht und ihnen beibringt, in Frieden Verantwortung zu tragen, der Schöpfung respektvoll gegenüberzutreten und dennoch nicht die positive Neugier zu verlieren, denn ohne die positive Neugier sind alle Intelligenzen zu Stagnation und Degeneration verurteilt. Du bist auf Grund deiner Vergangenheit und deiner unerschütterlichen Friedenssehnsucht dieser Aufgabe besser gewachsen als Atlan. Und du wirst niemals aufgeben, auch wenn du unter der Last der Verantwortung manchmal beinahe zusammenbrichst. Das weiß ich."
Ich hatte das Gefühl, als müsste ich schon jetzt unter der Last der Bürde zusammenbrechen, die Tagira mir aufladen wollte. Wäre ich doch bloß in meinem Sarg gestorben!
„Sershan, es gibt eine Weisheit des Universums - und sie steuert unser aller Schicksal!", belehrte mich die Göttin.
Irgendetwas in meinem Bewusstsein veränderte sich plötzlich. Es war, als wäre ein bisher brachliegender Teil meines Gehirns eingeschaltet worden. Mein Denken veränderte sich.
Ich sah ein, dass ich die erhoffte Glückseligkeit niemals erreichen würde - außer für den kurzen Zeitraum der Vermählung. Ich sah ein, dass eine solche Glückseligkeit mir auch gar nicht zustand - bei dem, was ich in der Vergangenheit alles an Schrecklichem angerichtet hatte.
Und mit einem Mal sah ich alles aus einer anderen Perspektive: Ich wusste, dass ich mein Glück darin finden würde, in den Kosmos hinauszuziehen und die Kinder einer höheren Entität zu erziehen - die Kinder, die ich mit einer höheren Entität gezeugt hatte.
Und unser Weltenschiff würde der Berg sein, auf dem wir standen: die Feste Tagirathem.
Als ich aufblickte, streckte Tagira mir ihre Hände entgegen - und plötzlich hatte ich keinerlei Probleme mehr ...
„Komm!", flüsterte sie. Mit einem Mal wurde ihr Gesicht nachdenklich. „Hast du eine exotische Pflanze mit nach Tagirathem genommen, Sershan?", wollte sie wissen.
Ich verneinte.
„Dann muß es Atlan gewesen sein", stellte sie fest - und fügte lächelnd hinzu: „Aber es ist eine gute Pflanze, und sie wird die Wildnis am Berg zum Blühen bringen."
13.
Einladung ins Ungewisse Das Warten stellte uns auf eine harte Nervenprobe.
Vor rund zwei Stunden war ich auf die SOL zurückgekehrt, auf die gleiche undefinierbare Weise, wie ich von ihr verschwunden war. Nur eines war mir und meinen Freunden klar geworden: Der Gute Geist von Wassermal manipulierte Raum und Zeit nach seinem Willen - zumindest innerhalb einer unsichtbaren Sphäre, die die Galaxis 10.000 Lichtjahre vor uns und die SOL in sich einschloss.
Allmählich hatte ich mich von der Enttäuschung erholt, die ich auf der Feste Tagirathem erlebte. Am meisten jedoch war ich von der Einsicht erschüttert worden, dass ich nicht das Maß an Moral und Ethik erreicht hatte, das ich erreicht zu haben glaubte.
Vielleicht ist das das wichtigste Resultat deines Wettkampfes
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