212 - Beim Stamm der Silberrücken
kostete Kraft und Menschenleben. Zu viel Kraft und zu viele Menschenleben.
Manchmal ertappte Leila sich dabei, wie sie versuchte, ihr genaues Alter zu bestimmen. War sie noch neunundfünfzig Jahre alt oder schon sechzig? Sie hatte schon lange aufgehört, ihre Geburtstage zu feiern, und die Jahre zählte sie auch nicht mehr.
Anfang Juli 2038 brach die linke Fahrwerksäule der Boeing.
Die Maschine kippte auf die Seite, auf der die Tragfläche fehlte, und schlug im vereisten Schnee auf. Der Rumpf des Flugzeugs zerbrach zwischen Cockpittür und Bugluke.
Niemand verletzte sich ernsthaft, doch es gab jetzt keine Tür mehr, mit der man die feindliche Außenwelt aussperren konnte.
Auch die Kälte wehte nun ungehindert über die Schlaflager.
Nach dem ersten Schrecken begutachteten Mogbar und die Männer den Schaden und palaverten ausführlich über die Möglichkeiten, den offenen Rumpf abzudichten.
Für die Nacht verhängten sie die Öffnung mit Decken und Fellen. Der Major verdoppelte die Wachen. Am nächsten Morgen machten sich die Männer an die Ausbesserungsarbeiten. Major Mogbar stieg mit einer Gruppe von vier Männern und drei Gorillas aus dem Rumpf, um die Lücke von außen zu flicken. Kaum hatten sie das Flugzeug verlassen, griffen Löwen an.
Leila hörte Mogbar schreien. Es waren Schreie der Wut, und weil sie ihn kannte, machte sie sich keine Sorgen: Solange Mogbar Wut empfinden konnte, war noch Lebenskraft in ihm.
Doch irgendwann riss einer seiner Wutschreie ab, und Leila hielt den Atem an. Sie hörte Löwen brüllen und Geier schreien, sie hörte Männer fluchen und Gorillas knurren, und sie hörte die ängstlichen Rufe ihrer Tochter. Mogbar hörte sie nicht mehr.
»Mogg!« Sie sprang auf. »Mogg!« Sie schnappte sich eine Axt und stürmte zur Öffnung des Wracks. Auch die Jäger und Gorillamänner hatten sich ihre Waffen gegriffen und kletterten nach draußen. »Lai!« Bora, die Älteste der Gorillafrauen, versuchte sie zurückzuhalten. »Lai! Lai…!«
»Geh nicht, Mutter!« Layi, die inzwischen zwanzigjährige Tochter Leilas, packte sie am Löwenfell, doch ihre Mutter entwand sich ihr und kletterte nach draußen. Layi riss eine Machete aus einer Scheide und stürmte ihr hinterher. »Lass mich gehen, Mutter!«
Draußen im Schnee bissen und schlugen sieben oder acht Löwen und fast ein Dutzend Tüpfelhyänen nach den Jägern und Gorillas. Der Schnee war blutgetränkt. Geier kreisten im düsteren Himmel. Zweihundert Schritte entfernt sah Leila zwei Löwinnen, die Mogbars Leiche davon schleppten. Ein paar Hyänen versuchten sie ihnen zu entreißen.
Leila rannte den Raubpelzen hinterher. Sie kam drei Schritte weit, dann sprang ein mächtiger langmähniger Löwe sie an und riss sie zu Boden. Layi hieb dem Biest ihre Machete in die Hinterflanke. Es ließ von ihrer Mutter ab und griff sie an.
Sofort stürzten sich vier Gorillas auf den Löwen und hielten ihn fest. Einer trieb ihm einen Speer durch das Auge. Doch schon bedeckte dunkles Gefieder Leilas weißen Körper.
Während Layi ihre Haut gegen Hyänen und Löwen verteidigte, musste sie mit ansehen, wie zwei Geier ihre Mutter verschleppten.
Ein Gorilla stürmte hinterher, doch sofort fielen ihn zwei hungrige Hyänen an.
Der Kampf dauerte länger als eine Stunde, und der Sieg kostete einen hohen Preis. Als die wenigen überlebenden Angreifer endlich die Flucht ergriffen, hatten Menschen und Gorillas sechs Löwen und zehn Hyänen getötet. Zwischen ihren dampfenden Kadavern lagen jedoch fünf tote Gorillamänner und dreizehn tote oder sterbende Menschenmänner.
Es war ein trauriger Tag. Die Gorillas heulten, die Menschen fluchten, und Layi verkroch sich in die hinterste Ecke des Flugzeugwracks. Dort schlug sie sich an die Brust, schrie nach ihrer Mutter und riss sich büschelweise die Haare aus.
Drei Tage lang suchten sie anschließend nach Leilas Leiche.
Vergeblich; nicht einen Knochen fanden sie noch.
Im Jahr darauf brach ein Vulkangipfel im Kilmaaromassiv aus – Kilmaaro, so nannte Layi den Weißen Berg – und es wurde so warm, dass es regnete und der See nicht mehr zufror.
In den nächsten drei Jahren wuchsen die Pflanzen am Seeufer üppiger als sonst, und der See war voller Fische.
Menschen und Gorillas hatten reichlich Nahrung. In dieser Zeit kamen elf menschliche Kinder und über dreißig Gorillababys zur Welt. Auch Layi wurde Mutter. Sie, die uralte Bora und deren Sohn führten die Horde inzwischen an. Bora war die einzige Gorillafrau,
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