2132 - Der Saltansprecher
hundertfünfzigtausend Einwohner lebten heute dort, von denen die meisten sich mehr schlecht als recht mit Feldarbeit über Wasser hielten.
Wenn man über die Ebene blickte, fielen die Schutzwälle auf, die sie errichtet hatten, um ihre Saat vor dem heißen, trockenen Wind zu schützen. Es war eine primitive Absicherung, die den technischen Entwicklungsstand der Stadt widerspiegelte. Die meisten Viertel verfügten noch nicht einmal über elektrischen Strom. „Guten Morgen, Olibec", sagte Pernaq höflich, als er in Hörweite war. „Ich hoffe, deine Nacht war angenehm."
Der Klostervorsteher stand mit dem Rücken zur Stadt und blickte auf das mehrere Quadratkilometer umfassende Areal des Klosters. Ein kleiner Raumhafen gehörte ebenso dazu wie eine hochmoderne Hospitaleinheit, aber abgesehen davon hatte sich die Anlage seit Jahrhunderten nicht verändert. Noch immer lebten die meisten Mönche in Kammern, die man in die Bergwand geschlagen und mit zahlreichen Treppen und Gängen verbunden hatte. Manche reichten so tief in den Berg hinein, dass man sie nur mit Atemmaske bis zum Ende. durchwandern konnte. Es war Pernaq zwar ein wenig peinlich, aber er musste sich eingestehen, dass er immer noch häufig die Orientierung verlor. „Guten Morgen", antwortete Olibec nach einer langen Pause. „Meine Nacht war nicht ohne Sorge." Pernaq fragte nicht nach, sondern lehnte sich stumm neben ihm an die Mauer. Noch war sie kühl in seinem Rücken, aber schon bald würde die Sonne sie so stark erhitzen, dass man die Hand nicht mehr darauf legen konnte. „Hast du je darüber nachgedacht", fragte Olibec schließlich, „wie dein Leben verlaufen wäre, wenn du auch einen Saltan gesetzt bekommen hättest?"
Pernaq sah überrascht auf. Das war die persönlichste Frage, die man ihm im Kloster je gestellt hatte. „Nein, das habe ich nicht. Man hat mich mit dem Wissen erzogen, dass meine Allergie keine Saltansetzung zulässt. Meine Eltern haben nie zugelassen, dass ich mich minderwertig fühle."
„Aber du bist minderwertig." Olibecs Stimme klang sanft, auch wenn seine Worte brutal waren. „Ein Prophet ohne Saltan ist ein Außenseiter, jemand, der sein Potential niemals ausschöpfen wird. Wir kannst du mit der Gewissheit leben, dass dir wahre Größe versagt bleibt?"
Pernaq kreuzte die Handgelenke in einer Geste der Akzeptanz. „Ich hatte nie eine Wahl. Es ist Gozin."
„Gozin? Ja, das ist es wohl. Aber was geschieht, wenn keine zufällige Allergie über dein Leben entscheidet, sondern eine andere Person? Ist es dann noch Gozin oder Willkür?" Pernaq spürte, dass sie sich dem eigentlichen Problem näherten. „-Richter fällen solche Entscheidungen jeden Tag", sagte er. Olibec verschränkte die Arme vor der Brust. Sein Gesicht wirkte noch länger und faltiger als sonst. „Gestern ist ein neuer Schüler eingetroffen."
Es dauerte einen Moment, bis Pernaq den rapiden Themenwechsel nachvollzogen hatte. „Der Mikhate-Fall?", fragte er dann. „Ich habe seine medizinischen Daten von Loan bekommen und dachte im ersten Moment, es liege ein Irrtum vor. Weshalb schickt man ein solches Kind hierher?"
„Weil Mikhate nicht sein einziges Problem ist." Olibec stieß sich von der Mauer ab und ging auf eine Antigravplattform zu. „Komm mit, dann wirst du sehen, weshalb ich über sein Leben entscheiden muss, bevor er über das unsere entscheidet." Pernaq folgte ihm, neugierig und besorgt.
Obwohl man Tieger auf einem Metalltisch festgeschnallt hatte, war sein Geist so frei wie nie zuvor. Die Süße des gabraunizisz rann seine Kehle hinab, während er sich emporschwang und die Pfade der Götter betrat. Sie waren grün wie die Sümpfe Loans und unterschieden sich nur in Nuancen, kleinen Farbspielen, die versuchten, ihn zu täuschen und in die Irre zu locken.
Tieger beobachtete sie lachend. Er erkannte ihre Strukturen, so, wie man die Linien auf Blättern erkennt und ihnen mit den Fingern folgen kann. Mit einem kühnen Sprung seines Geistes landete er auf einem Strang, lief ihn ein Stück entlang, bis es langweilig wurde und er einen anderen betrat. Die Stränge waren miteinander in vielfältigen Bahnen verwoben, überkreuzten sich hier und da oder brachen plötzlich ab, noch während er sie betrachtete.
Es war unmöglich, sich auf alle zu konzentrieren, aber Tieger bemühte sich,. zumindest dem Hauptstrang zu folgen. Etwas schimmerte durch das Grün hindurch, und er lief schneller, wusste plötzlich, dass dort das Ziel seiner Reise
Weitere Kostenlose Bücher