2132 - Der Saltansprecher
unterdrückte Aufregung, sondern fuhr fort: „Die ungewöhnlichen Werte, von denen ihr sicher alle schon gehört habt, konnten zwei Überprüfungen standhalten. :Das bedeutet, dass die Aura des Jungen bereits vollständig entwickelt ist."„Das ist unmöglich!" Olibecs Stellvertreter Gajan wagte einen Einwand. „So etwas dauert Jahrzehnte."
„Nicht in diesem Fall. Es gibt keinen Zweifel daran, dass es sich bei dem Jungen um den stärksten und präzisesten Propheten handelt, der mir je begegnet ist." Die Aufregung schlug in Begeisterung um.
Jeder wusste, dass ein solcher Prophet das Ansehen des Klosters noch weiter steigern würde. Nur Pernaq hielt sich zurück und dachte an das Gespräch, das er am Morgen mit Olibec geführt hatte.
Dieser hob die Hände und sorgte damit für Ruhe. „Deshalb"-, sagte er dann, „darf niemand je erfahren, dass es ihn gibt."
„Was?" Wieder war es Gajan, der die Worte seines Vorstehers in Zweifel stellte. „Wieso sollten wir unsere Stärken verheimlichen? Ein solcher Prophet wird uns weit über die Grenzen Kazas hinaus bekannt machen." Olibec beugte sich vor. Die Augen unter seinen buschigen Brauen wirkten wütend und traurig zugleich. „Der Junge ist schwachsinnig. Er kennt die Verantwortung für seine Gabe nicht. Wie lange wird wohl unser Ruhm halten, wenn er einem Prinzenkrieger den Tod durch eine schreckliche Krankheit vorhersagt oder ihm enthüllt, dass seine Gemahlin ihn betrügen wird? Was glaubst du, was dann passieren würde?" Er machte eine theatralisch wirkende Pause, die jedoch niemand zu einer Antwort nutzte. „Wir alle", sagte Olibec ruhiger, „haben geschworen, niemals bei einer Prophezeiung zu lügen. Das fällt uns meist leicht, denn die Visionen sind nur schwer zu lesen und können sich auf verschiedene Dinge beziehen. Manchmal müssen wir die Fragesteller mit unangenehmen Wahrheiten konfrontieren, aber darüber reden wir mit größter Vorsicht. Ein Schwachsinniger kann diese Verantwortung nicht tragen. Seine Gabe ist ein Hohn der Götter, eine maßlose Verschwendung, die uns demütigen und kränken soll. Jeder von uns sollte über den Grund für diese Strafe meditieren."
Mit einer knappen Geste forderte er die Propheten zum Verlassen des Raums auf. Sie hielten den Kopf gesenkt, als sie auf die Tür zugingen. Pernaq folgte ihnen, unsicher darüber, ob Olibec tatsächlich aus Sorge oder nicht doch aus gekränktem Stolz handelte. Schließlich hatte ein Schwachsinniger innerhalb weniger Stunden eine Aura erreicht, für die er Jahrzehnte benötigt hatte. Er wollte gerade die Tür schließen, als Olibecs Stimme ihn zurückhielt. „Willst du denn nicht wissen, was ich mit Tieger vorhabe?"
Pernaq drehte sich um. „Wirst du es mir sagen, wenn ich frage?"
„Natürlich. Ich habe eben Molpo den Befehl gegeben, Tieger auszubilden."„Du willst ihn in die Gehege schicken?"Olibec warf einen kurzen Blick auf das Chronometer, das an einer Wand hing. „Wenn alles gut verläuft, ist er bereits dort. Was dann passiert, ist gozin." Nein, dachte Pernaq, das ist es nicht. Es ist Mord, und das weißt du ebenso gut wie ich.
Tieger wagte es kaum, den Mann anzusehen, der neben ihm durch die Gänge hinkte. Er hatte sich als Molpo vorgestellt und ihm versichert, das Redeverbot gelte nur für die übrigen Mönche. Es hätte jedoch nichts ausgemacht, wenn das anders gewesen wäre, denn Molpo gab Tieger seit der Begrüßung keine Gelegenheit, selbst etwas zu sagen. Stattdessen redete er ununterbrochen. „Morgens ist es besonders schlimm. Dann lauern sie hinter den Toren auf dich, warten auf die eine Unachtsamkeit, die dein Leben beendet. Siehst du das?"
Er hob die Lampe und beleuchtete sein Gesicht. Tieger starrte auf ein Netz aus wulstigen Narben. Die Nase, ein Auge und ein Ohr fehlten. „Das haben sie morgens mit mir gemacht. Nur einen Moment habe ich nicht aufgepasst, und schon war es zu spät. Ist ein ekelhaftes Gefühl, wenn sie dir das Fleisch vom Körper reißen." Molpo senkte die Lampe und legte seine Hand auf Tiegers Arm. Er hatte nur drei Finger. „Ich will aber nicht klagen, Junge. Andere hat es viel härter erwischt. Wazhi wurde bei lebendigem Leibe gefressen, Ilku ist ein Krüppel. So kann's gehen." Zum ersten Mal brach sein Redefluss ab. Tieger versuchte sich verstört aus seinem Griff zu winden, aber die dreifingrige Hand ließ nicht los.
Sie zwang ihn, neben Molpo zu bleiben und weiter den Gang entlangzugehen. Mittlerweile hatte er völlig die Orientierung
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