216 - Jenseits von Raum und Zeit
rettete sich sein Bewusstsein zurück in das Tunnelfeld.
Dort schwebte seine Aura eine Zeitlang über dem energetischen Schattenfeld des Dickzahn-Wulrochs und schrie unaufhörlich – jedenfalls glaubte Gilam’esh zu schreien –, und als er aufhörte zu schreien, schienen wieder Tausende von Umläufen vergangen zu sein.
***
Irgendwo über dem Indischen Ozean, 2. April 2524
»Etwa hundert Jahre lang existierte mein Bewusstsein im Gehirn dieses außergewöhnlichen Hydree.« Matt Drax schloss die Augen, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Nacken. Die Erinnerung an die Zeit in Gilam’eshs Körper, an dieses zweite Leben wühlte ihn mächtig auf. »Während der Evakuierung des Rotgrunds überfielen Barbaren…«
»Des ›Rotgrunds‹?« De Rozier zog fragend die Brauen hoch.
»So nannten die Hydree den Mars«, erklärte Matt Drax. »Während der Evakuierung also überfielen barbarische Fischmenschen die Zeitstrahlstation, Diese wilden Krieger nannte man Patrydree. Sie verletzten Gilam’esh tödlich. Er erreichte noch die Höhle mit dem Zeitstrahl, aber dort starb er nicht weit entfernt vom Tunnelfeld. Das war dann auch das Ende meiner Odyssee in die Vergangenheit des Roten Planeten. Mein Geist löste sich von ihm und kehrte in die Gegenwärt zurück.« Vor den Fenstern der Gondel war es längst dunkel geworden. Der Wind blies jetzt heftiger und heulte lauter durch die Ritzen der Gondelwand. Manchmal schwankte das Luftschiff bedenklich. Von Zeit zu Zeit geriet es in ein Luftloch und sackte ab.
Der Seher starrte die ganze Zeit in die Nacht hinaus. »Unfassbar«, seufzte er, als Matthew Drax seinen Bericht abgeschlossen hatte. »Ich habe viel erlebt und gesehen, aber das übersteigt alles, was ich mir bisher vorstellen konnte.« Der Kaiser neben Matt hatte die Arme vor der Brust verschränkt und den Kopf auf die Schulter geneigt. Er beobachtete den blonden Mann aus dem 21. Jahrhundert mit unverhohlener Skepsis. Irgendwann räusperte er sich und fragte: »Und wie viele dieser… denkenden Fische sind durch das mysteriöse Zeitfeld zur Erde ausgewandert?«
»Ich kann wirklich nicht sagen, wie viele Hydree sich hierher gerettet haben.« Matt Drax zuckte mit den Schultern. Der spöttische Unterton in der Stimme des Kaisers fiel ihm gar nicht auf, so sehr war er noch in seine Erinnerungen versunken. »Es konnten jedenfalls genug Individuen fliehen, um in unseren Meeren eine Population zu bilden, die sich über Zehntausende von Jahren fortpflanzte und entwickelte. Kleine Gemeinschaften dieses Volk gibt es ja bis zum heutigen Tag. Sie nennen sich Hydriten und meiden jeden Kontakt zu uns Menschen. Die hydritische Kultur und Wissenschaft ist der menschlichen übrigens in vieler Hinsicht überlegen.«
Die Männer schwiegen eine Zeitlang. Jeder hing seinen Gedanken nach oder lauschte einfach nur dem Heulen und Pfeifen des Sturmes. Im Nachthimmel zuckten die ersten Blitze auf. Donner grollte. Zum ersten Mal fragte Matt Drax sich, ob die kaiserliche Roziere auch einen schweren Gewittersturm überstehen würde.
»Die Boten des Untergangs – vernehmt ihr sie nicht?« Yann Haggard richtete sich in seinem Sessel auf. »Die Blitze, den Sturmwind, den fluchenden Donner! Seht doch den schwarzen Wehrturm der Wolkenburg, seht…!«
Matt Drax öffnete die Augen und blickte zum Sessel am Fenster. Der Seher fing schon wieder an zu orakeln. Wie in Trance saß er auf der Sesselkante und deutete zum Gondelfenster hinaus. Erfahrungsgemäß würde es jetzt nicht mehr lange dauern, bis seine Kopfschmerzen wieder einsetzten und er nach dem Schmerzmittel verlangte, dessen Vorrat erschöpft war. Davor fürchtete Matt sich fast noch mehr als vor einem Orkan.
»Schon drohet uns Schaitan mit tödlicher Faust, schon spür ich den letzten Atemzug reifen tief in der Brust, und Kukumotz schlummert am Busen der Nymphe, schläft, und an Rettung denkt er nicht! Wir aber schwinden, wir fallen, wir leidenden…!«
»Ça suffit!« Der Kaiser schlug mit der Faust auf den Kartentisch und fuhr hoch. »Das ist ja nicht zum Aushalten!« Demonstrativ hielt er sich die Ohren zu. Der Seher aber blickte über die Schulter zurück und runzelte nur die Stirn. Er schien überhaupt nicht zu begreifen, was de Rozier so sehr aufbrachte, dass er die Beherrschung verlor.
Der Kaiser bedachte Haggard mit einem strengen Blick und sog scharf die Luft durch die Nase ein. Matt Drax schien es, als würde Pilatre de Rozier angesichts seines nahen Endes
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