22 - Im Reiche des silbernen Löwen III
euch!“
Er hielt einen Augenblick inne, wie um mir Zeit zu gewähren, über seine Worte nachzudenken; dann fuhr er weiter fort: „Und nun du endlich, endlich gekommen bist, und zwar in einer Weise, wie ich kaum hoffen konnte, so segne ich dich mit dem besten Segen, den ein Mensch vom Himmel zu empfangen und einem anderen Menschen zu geben vermag. Nimm ihn hin von mir, diesen Segen, und glaube nicht, daß er in leeren Worten bestehe! Er kommt nicht von mir, sondern von dem, der die einzige Quelle alles Segens ist!“
Als er das gesagt hatte, trat er von mir weg und setzte sich zu meinen Füßen auf die erste der hinabführenden Stufen nieder. Das war so bescheiden und anspruchslos; das war so klein, und doch war es so groß!
Nun herrschte eine Weile zwischen uns Schweigen. Die schnelle Dämmerung verwandelte sich in Nacht. Die Häuser waren verschwunden, aber freundliche Lichter tauchten auf, um uns die Stellen zu bezeichnen, an denen Menschen wohnten. Am Himmel wurden die Sterne immer sichtbarer. Ihr Schein reichte hin, uns die erhabenen Gestalten der Berge sichtbar zu machen, um deren baumlose Häupter lichtere Töne webten, welch mein Auge unausgesetzt auf sich zogen. Da deutete der Ustad empor und sagte: „Ich sehe, daß du hinauf zu unseren Bergen schaust. Wollte das Abendland doch stets dasselbe tun! Aber es scheint nur unsere Täler kennen zu wollen! Wenn es von uns redet, so spricht es nur von unsern Tiefen, nicht von unsern Höhen! Von unserem Alter, nicht von unserer Jugend! Von unserer Vergangenheit, nicht von unserer Zukunft! Von unserem Tod, nicht von unserem Leben! Von unserer Ohnmacht, nicht von unserer Stärke! Von unserem Verfall, doch nicht von unseren Hoffnungen! Ich weiß nur einen einzigen Europäer, der anders und besser von uns denkt, und dieser Mann bist du, Effendi.“
„Ich habe noch nicht mit dir hierüber gesprochen. Solltest du mich trotzdem kennen?“ fragte ich.
„Ja. Wir haben nicht die Mittel des Verkehrs, die ihr besitzt; aber der Ilahn (Kunde, Bericht, Fama) ist ein schneller Reiter. Er eilt von Duar (Lager, Dorf) zu Duar, um zu verkünden, was er sah und was er hörte. Er hat schon längst, schon längst von dir erzählt. Du warst wiederholt ein Gast der Haddedihn, und von ihnen bis herauf zu uns ist gar nicht weit. Du warst schon einigemal in den Bergen Kurdistans. Was da geschah, das haben wir erfahren. Ich habe geahnt, daß deine Seele dich auch zu uns führen werde, und darum sagte ich soeben, daß du von uns erwartet worden seist. Aber es gibt noch eine andere, bessere und zuverlässigere Quelle, aus deren reinem, klarem Wasser mir dein geistiges Angesicht entgegenblickte. Ahnst du vielleicht, wer diese Quelle ist?“
„Nein.“
„Ihr Name ist Marah Durimeh.“
„Sie? Meine liebe, liebe Freundin und Beschützerin?“ fragte ich da schnell. „Kennst du sie?“
„Wahrscheinlich kennt sie keiner so gut, wie ich sie kenne. Doch schweigen wir jetzt von ihr! Es gibt noch eine andere Person, an die ich jetzt zu denken habe. Als ich am Morgen, nachdem man euch zu mir gebracht hatte, eure Waffen sah, fiel mir ein Chandschar (Dolch) auf, der bei dir gefunden worden war.“
„Kennst du ihn?“ fiel ich rasch ein.
„Ja. Es kennen ihn sehr viele. Ist er ein Geschenk?“
„Ja.“
„Wo hast du ihn bekommen?“
„In Amerika.“
„Von wem? Verzeih, daß ich dich frage! Es ist nicht müßige Neugierde, die mich zu dieser Erkundigung veranlaßt.“
„Von einem Perser namens Dschafar.“
„Mirza Dschafar, der Sohn von Mirza Masuk?“
„Ja, von ihm.“
„Er gab dir die Waffe mit der Versicherung, daß derjenige, der ihm diesen Chandschar vorzeige, sei er, was er sei, darauf rechnen könne, daß er alles für ihn tun werde?“
„So ist es. Also auch diese Worte sind dir bekannt?“
„Nicht nur sie und nicht nur alles, was Mirza Dschafar mit dir erlebte, sondern auch alles, was er mit dir gesprochen hat. Du siehst also, daß ich dich besser kenne, als du wohl ahnen konntest. Darum weiß ich ganz genau, wie du über das Morgenland und sein Verhältnis zum Abendland denkst. Ich begreife, daß du näheres über Mirza Dschafar erfahren möchtest, bitte dich aber, mich jetzt nicht zu fragen. Du gehst ja noch nicht fort von mir, und wir haben also Zeit genug, über diesen mir so wichtigen Mann zu sprechen. Es liegt ein Geheimnis über ihm, und ich weiß jetzt noch nicht, ob ich es dir so weit, wie ich es kenne, enthüllen darf.“
Er schwieg. Auch ich war still.
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