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22 - Im Reiche des silbernen Löwen III

22 - Im Reiche des silbernen Löwen III

Titel: 22 - Im Reiche des silbernen Löwen III Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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führte. Das Haus des Ustad stand hoch auf stolzer Höhe. Es war auf gewaltigen, altpersischen Mauerresten errichtet und glich mehr einer Burg als einem Wohngebäude, doch konnte ich das jetzt noch nicht sehen. Das vor mir liegende Tal hatte eine elliptische Form, an deren westlicher, schmaler Seite ich hier saß. Es war wohl eine Wegstunde lang und halb so breit. In der Mitte flimmerten die vom Windeshauch bewegten Wellen eines Sees, welcher rundum von saftig grünem Weideland umgeben war. Ich sah da Pferde, Maultiere, Kamele, Rinder und eine Menge Kleinvieh grasen. Hieran schlossen sich wohlbebaute Felder, welche bis an die rings emporragenden Berge reichten, an denen sich Wein-, Maulbeer-, Frucht- und Blumengärten bis da hinauf zogen, wo der Wald sich seiner Herrschaft nicht berauben ließ. Ich sah lebhafte Wasser von den Höhen fließen, um ihren Weg zum See zu suchen, auf dem – ein Wunder hier in Persien! – ein kleines Boot sein helles Segel blähte. Überall standen Häuser, meist mit platten Dächern, aus festen Steinen aufgeführt und freundlich weiß getüncht. Sie wurden im Winter bewohnt. Für die jetzige Jahreszeit hatte man luftige Zelte errichtet oder auf den Dächern aus Laub und Stangen Hütten gebaut, in denen man des Nachts zu schlafen pflegte. Diese Hütten sind auch in anderen Gegenden des Orients gebräuchlich. Man sieht sie z.B. besonders auf den alten, dumpfigen Gebäuden von Beled esch Schech und El Jadschur, welche an der Straße von Haifa nach Nazareth liegen. Die Berge erreichten hier eine solche Höhe, daß ihnen der Wald nicht ganz hinauf zu folgen vermochte. Die Kuppen bildeten alpine Weiden, auf denen die dort grasenden Ziegen dem Auge als ganz winzige Tüpfelchen erschienen.
    Die Mehrzahl der Häuser und der Zelte lag im Vordergrund, von welchem aus ein breiter, straßenähnlicher Weg hinauf nach einem Felsenvorsprung führte, wo ich ein Bauwerk liegen sah, dessen Stil meine Verwunderung erregte. Es war ein nach allen Seiten offener Tempelbau, dessen Dach nur von Säulen, nicht von geschlossenen Wänden getragen wurde. Es gab kein einziges Zeichen, welches verriet, welcher Art von Verehrung es zu dienen habe. Ich sah nur die Säulen und das Dach, sonst weiter nichts. Es gab keinen Altar, keinen einzigen Sitz, keinen Rednerstuhl. Aber an allen Säulen rankten sich blühende Kletterrosen und andere Schlingpflanzen empor, und der ganze Platz rund um den Tempel bildete einen sichtlich mit großer Liebe gepflegten Blumengarten, durch welchen zahlreiche, mit reinlichem Sand bestreute Wandelgänge führte. Noch hing mein bewundernder Blick an dieser Herrlichkeit da drüben, da kam jemand durch den Raum gegangen und blieb hinter mir am Pfeiler stehen. Ich sah ihn nicht, aber ich fühlte ganz deutlich, daß es der Ustad war. Es verging einige Zeit, ohne daß er sich bewegte oder sprach. Auch ich war still. Ich sah hinauf zu den Bergen. Das Licht hatte begonnen, sich aus dem Tal zurückzuziehen. Die leise schreitende Dämmerung stieg empor. Als sie den Fuß des Waldes erreicht hatte, erschienen die freien Höhen wie in flüssiges, leuchtendes Gold getaucht. Die scheidende Sonne gab ihnen den letzten, glühenden Abschiedskuß. Das Gold ging in tiefere Orange- und Purpurtöne über, denen ein kurzer, violetter Schatten folgte; dann schwang sich das Abendrot von den Bergen himmelwärts, um sich dort für eine andere Welt ins Morgenglühen zu verwandeln. „Gute Nacht!“ klang es mir durch die Seele.
    Ich hatte das bloß gedacht, und doch ertönte sogleich neben mir die tiefe Stimme des Ustad: „Gute Nacht für uns; für andere aber bedeutet es den Morgen! Erlaubst du mir, Effendi, eine kurze Zeit bei dir zu sein?“
    „Du bist mir, wie kein anderer, hochwillkommen!“ antwortete ich ihm.
    Da trat er zu mir heran, legte mir die Rechte auf das Haupt und sprach: „Seit du bei mir in meinem Haus bist, ist's heut zum erstenmal, daß deine Krankheit nicht zwischen meinen Worten und dem Verständnis derselben steht. Sie ist gewichen; du kannst nun, ungehindert von ihr, das, was ich sage, empfangen und begreifen. Ich heiße dich zum zweitenmal willkommen und bitte dich, bei mir zu bleiben, so lange es dir und deinem höhern Ich, welches ihr Seele zu nennen pflegt, bei mir und meiner Seele gefällt. Ich habe auf dich gewartet.“
    „Du? Auf mich?“ fragte ich erstaunt.
    „Ja. Schon seit langer, langer Zeit. O, ihr wißt gar nicht, wie lange wir schon auf euch warten, auf euch, auf euch, auf

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