22 - Im Reiche des silbernen Löwen III
Es sei denn, daß eine Religion existiere, welche die Verknöcherung des Herzens zur unbedingten Folge hat! Es war eine ganz eigenartige Atmosphäre, aus welcher ich hier an diesem Ort und in dieser Stunde körperlich und geistig Odem sog. Da unten in Basra hatten wir die pest- und fieberschwangeren Dünste einer nicht bloß orographischen Tiefe eingeatmet; hier oben aber umwehte mich, auch nicht bloß äußerlich, eine Lebensluft, die frei von Keimen zum Erkranken war. Ich hätte behaupten mögen, daß nie ein Glockengeläut so rein erklungen sei wie dieses hier. Vielleicht waren die aufsteigenden Fürbitten von eben derselben Lauterkeit, weil niemand wußte, um wen und um was es sich handelte. Dieser von jeder Äußerlichkeit erlöste Gottesdienst wirkte so unmittelbar und siegreich auf das Gemüt, daß eine Frage nach Knigges ‚Umgang mit Andersgläubigen‘ gar nicht aufkommen konnte. Nur einem vollständig herz- und gemütslosen Menschen wäre es zuzutrauen gewesen, hier ohne sowohl innere als auch äußere Teilnahme zu bleiben.
Als der letzte Ton der Glocken zwischen den Bergen verklungen war, verharrte der Ustad noch einige Zeit im Schweigen; dann wandte er sich mir wieder zu und sagte: „So wie jetzt wurden die Glocken geläutet, mitten in der Nacht, als man dich und den Scheik der Haddedihn hier bei mir eingebettet hatte. Es gab keinen einzigen Dschamiki, der sich nicht dem Schlaf entriß, um für euch zu beten. – Und alle, alle, sind auch dann noch mit dieser Fürbitte einverstanden gewesen, als sie erfuhren, daß ihr unsern Chodeh ‚Gott‘ und ‚Allah‘ nennt. Wäret ihr beide bei uns gestorben, so hätten wir euch nicht etwa abseits eingescharrt, sondern ihr wäret unter Glockenklang und Liedersang auf den Berg getragen worden, wo alle unsere Brüder und Schwestern liegen, die sich verwandelt haben. Wir hätten euch gesegnet, wie wir sie gesegnet haben, und euch die schönsten und duftendsten unserer Rosen auf die Gräber gepflanzt. Denn wir verheimlichen nicht, was wir wissen und was wir glauben und was kein guter, unbefangener Mensch bezweifeln kann, nämlich daß nicht wir die Richter sind, welche über die Seligkeit oder Verdammnis der Sterblichen zu bestimmen haben. Sag, würde man auch bei euch Christen einem Andersgläubigen die Glocken läuten und den Segen geben? Ich frage dich nicht, um eine Antwort zu erhalten, denn ich weiß, daß du sie mir nicht geben darfst.“
Als er jetzt schwieg, blieb ich still. Warum? Bloß wegen meiner körperlichen Schwäche als Genesender? Oder aus Klugheit, um ein Wortgefecht zu vermeiden? Warum soll man, wenn man von Achilles redet, grad von der Ferse sprechen! Mein Auge war hinunter auf das Tal gerichtet. Ich sah Lichter, welche sich hin und her bewegten. Waren das Fackeln? Vereinzelte Stimmen drangen herauf; sie klangen wie Kommandorufe. Da fragte mich der Ustad: „Bemerkst du, daß sich da unten das Dorf belebt?“
„Ja“, antwortete ich.
„Fühlst du dich schwach oder wohl?“
„Wohl. Warum willst du das wissen?“
„Weil ich eine Mitteilung für dich habe, welche dich wahrscheinlich sehr bewegen wird.“
„Sprich sie aus! Ich fürchte nichts für mich.“
„Sie ist eine doppelte. Das eine klingt nicht froh. Das will ich dir zuerst sagen, damit das andere dich wieder beruhigen möge. Mein Peder vermutet, daß Hadschi Halef Omar in dieser Nacht erwachen werde.“
„Zum letzten Male?“
„Das weiß allein Chodeh. Ich bin überzeugt, daß die Erwartung des Peder sich erfüllen werde, denn er kennt diese Krankheit so genau, wie kein zweiter sie kennt.“
„Wo werden die Boten sein, die wir nach den Weideplätzen der Haddedihn gesandt haben?“
„Das ist das zweite, was ich dir mitzuteilen habe. Der Gedanke, Kara Ben Halef holen zu lassen, wurde zwar von dir ausgesprochen, aber er kam nicht von dir. Daß er dir gegeben wurde, läßt mich für unseren dem Tod so nahen Freund noch Hoffnung hegen. Unser Können ist erschöpft; es gibt nur noch die Möglichkeit, daß der unerwartete Anblick seines Sohnes ihn rettet.“
„Aber der ist nicht hier!“
„Er kommt.“
„Wirklich? Gewiß? Noch heut?“ fragte ich in freudiger Überraschung.
„Ja; noch heut, noch diesen Abend, noch vor Mitternacht.“
Ich lehnte mich zurück und holte tief, tief Atem.
Es war, als ob der Odem mir bisher gefehlt und sich nun wieder eingestellt habe. Ich schloß die Augen. Mein Blick richtete sich nach innen. Da sah ich nun so recht, wie schwer die
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