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22 - Im Reiche des silbernen Löwen III

22 - Im Reiche des silbernen Löwen III

Titel: 22 - Im Reiche des silbernen Löwen III Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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Wie wunderbar die Fäden des menschlichen Lebens gesponnen werden! So fern die Maschen voneinander liegen, es kommt ganz unerwartet ein Faden, der sie eng vereinigt. Wer sind die Arbeiter, die an unsern Webstühlen sitzen? Wir selbst? Wer liefert uns das Garn? Wer bringt es auf die Spule? Wer legt die Kette um den drehenden Rahmen? Wer legt die Muster auf? Wer lenkt das unermüdliche Schiffchen Tag für Tag, Stunde für Stunde, vom ersten bis zum letzten Augenblick unserer Erdenzeit? Immer und immer nur wir selbst? Wir armen, armen, kurzsichtigen Toren!
    Es lag in diesem Gedankengang, daß mein Blick hinüber nach dem Blumentempel geführt wurde. Ich fragte den Ustad, was das für ein Gebäude sei.
    „Es ist unser Beit-y-Chodeh (Gotteshaus)“, antwortete er. „Du kannst es auch Beit Allah nennen. Chodeh und Allah ist ja gleich. Ihr nennt ihn Gott!“
    Da aber wandte er, der mir bisher die Seite zugekehrt hatte, sich plötzlich ganz zu mir herum und sagte: „Gott – Allah – Chodeh – welch eine Todsünde, zu behaupten, daß diese drei Worte nicht verschiedenes bedeuten! Ich sah einen englischen Missionar, welcher seinen Schülern befahl, den Schöpfer und Erhalter aller Dinge nur englisch ‚God‘ zu nennen; Allah und Chodeh seien ganz andere Götter! Als ob der Ewig-Ewig-Eine von irgendeinem sich überhebenden Menschenkind gezwungen werden könne, für jede andere Sprache und für jede andere Art, in der die Sterblichen zu ihm lallen, auch ein anderes Wesen anzunehmen! So ein Tor stellt sich hoch über Gott, indem er es in seiner Verblendung wagt, zu bestimmen, welches Wort der einzig richtige Name des Weltenlenkers sei! Hast du als Christ den Mut, Gott Allah oder Chodeh zu nennen, Effendi?“
    „Wenn ich überhaupt schon den Mut besitze, von Gott oder gar im Gebet mit Gott zu sprechen, so ist der Mut, den du meinst, wohl selbstverständlich. Ich besitze nicht die Macht, Gott vorzuschreiben, wie er sich in den verschiedenen Ländern der Erde nennen zu lassen habe. Und ich bin auch nicht so wahnsinnig, zu behaupten, daß Gott ein Wesen sei, dessen Name nur aus Buchstaben des deutschen Alphabetes zusammengesetzt werden könne.“
    „So denke ich auch. Man gibt ihm in jeder Sprache und in jeder Anbetungsweise so viele und so verschiedene Namen; aber er ist und bleibt stets derselbe. Welches Menschenwort könnte ihn umfassen? Von welchem irdischen Gebäude dürfte man sagen, daß er hier ausschließlich wohne? Darum haben wir zwar die Säulenhalle da drüben errichtet, aber wir nennen sie nicht ‚sein‘ Haus, sondern ‚unser‘ Gotteshaus. Dieses haben wir für uns gebaut, nicht aber zur Wohnung dessen, der allgegenwärtig ist und sich nicht etwa von einem anderen Ort und von anderen Menschen entfernen kann, um, uns zum Vorzuge, bei uns einzuziehen. Wer einen besondern Ort für Gott bestimmt, der begeht die Sünde, dem allumfassenden Geist die Fesseln von Raum und Zeit anlegen zu wollen. – – – Warum ist es zu allererst Chodeh, von dem ich zu dir spreche? Warum habe ich nicht mit etwas anderem begonnen? Du solltest vor allen Dingen und zunächst wissen, wem dieses Haus und dieses kleine Reich gehört, dessen Lichter du da unten glänzen siehst. Ich wollte dir damit sagen, daß du dich bei Leuten befindest, welche wissen, wem sie angehören. Und wir sagen nicht bloß, daß wir ihm dienen, sondern wir sind jederzeit bereit, dieses Wort in Taten zu verwandeln. Horch! Da hast du gleich Gelegenheit, so eine Tat zu hören.“
    Die beiden Glocken begannen über uns zu klingen.
    „Warum läutet man?“ fragte ich.
    „Um zum Gebet aufzufordern. Irgend ein Bewohner unsers Tales sendet in diesem Augenblick seine Seele zu Chodeh empor; er hat das hier gemeldet; die Glocken klingen, und so weit ihre Stimmen zu hören sind, faltet jedermann die Hände, und tausende von Herzen beten mit. Ich tue es auch!“
    „Ich ebenso!“
    Es war, als ob diese meine zwei Worte mit Willen begabte Wesen seien, welche meine Hände faßten, um sie ineinander zu legen. Muß man wissen, um was jemand bittet, um mit ihm beten zu können? Nein! Der Glaube trägt die Nächstenliebe himmelan; der Gegenstand des Wunsches braucht nicht genannt zu werden. „Euer Vater weiß, was ihr bedürfet, noch ehe ihr darum bittet.“
    Gibt es vielleicht ein Dogma oder irgend ein Glaubensbekenntnis, gegen welches ich gesündigt hätte, indem ich hier als Mensch mit anderen guten Menschen meiner brüderlichen Pflicht gedachte? Ich hoffe: keines!

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