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22 - Im Reiche des silbernen Löwen III

22 - Im Reiche des silbernen Löwen III

Titel: 22 - Im Reiche des silbernen Löwen III Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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vollständiges Vernichtetsein?“
    „Nein. Es bringt vielmehr das wahre, rechte Leben. So sagt der Ustad.“
    „So sage auch ich; so sagst auch du, und so hast du stets gesagt, auch damals, als du dich nach dem Tod sehntest. Nur dies wollte ich dir beweisen. So reden Tausende und Abertausende vom Tod, ohne zu wissen, daß sie ihn mit ihren eigenen Worten aus dem Dasein streichen. Als der Mensch zum erstenmal von dem Tod sprach, wurde er, der Tod, im Menschengehirn geboren; aber es war das eine Totgeburt. Und die Gedankenleiche dieses Totgeborenen hat man durch Millionen Gehirne und durch Jahrtausende bis auf den heutigen Tag weitergeschleppt und wird sie noch durch die folgenden Jahrhunderte zerren, ohne einzusehen, daß man alle diese lächerliche Furcht und Mühe auf einen Korkuluk (Popanz, Scheuche, Schemen) verwendet!“
    „Korkuluk! So ähnlich sagte damals auch mein Tifl.“
    „Wie? Er, der junge Mensch?“
    „Warum nicht, Effendi? Bedenke doch, daß unser Ustad sich bereits fünfzig Jahre bei den Dschamikun befindet! Was er glaubte und dachte, davon hat er die Alten überzeugt, und diese haben es den Jungen, den Kindern, überliefert. Weißt du, in welcher Weise das geschieht? Ganz so, wie mein Tifl mit mir tat, als ich ihm sagte, daß ich sterben wolle. Es gibt im ganzen Duar kein einziges Kind, welches auf einen solchen Wunsch nicht sofort antworten würde, daß er ja gar nicht in Erfüllung gehen könne. Darf ich dir erzählen, wie Tifl zu mir sprach?“
    „Ja, sage es mir!“
    Da trat sie näher zu mir heran, kauerte sich in orientalischer Weise vor mir nieder, zog den weißen Schleier so um sich, daß nur ihr liebes Angesicht und die beiden Händchen aus demselben vorschauten, und begann:
    „Es war am Abend; draußen vor der Küche, wo die Tarfasträucher (Tamarisken) ihre langen, niedlich blühenden Zweige über mich senkten, als ob sie Erbarmen mit meiner Trauer hätten, denn ich weinte leise vor mich hin und wünschte mir den Tod. Da kam Tifl, ebenso leise, leise, denn mein Schluchzen war ihm heilig. Er lehnte sich neben der Tarfa an die Mauer und sagte lange, lange nichts, kein Wort. Kein Laut war ringsum zu hören; in mir nur sprach die Sehnsucht nach dem Tod fort und fort in trostlosen Klagelauten. Da plötzlich ertönte die Stimme ‚des Kindes‘ neben mir, halblaut, langsam, feierlich. Wie klang sie doch? Ganz anders als wie sonst! So hoch von oben! Als ob eine gütige Fee aus ‚Alif lei'la‘ (Tausend und eine Nacht) da über den Zweigen schwebe und von ihrer schönen, lichten Heimat zu mir sprechen wollte. Meine Tränen stockten. Ich lauschte.“
    Pekala machte eine Pause. Ihre Augen suchten das nahe Rosengebüsch. Sie sann. Welch einen Ausdruck hatte jetzt ihr Gesicht! Als ob die Fee jetzt wieder bei ihr sei und ihr mit lieber Hand verschönernd und durchgeistigend über die Wangen gestrichen habe! Dann fuhr sie fort:
    „Es kam ein Sonnenstrahl zum Monde nieder
Und hielt mit seinem Glanze bei ihm Rast,
Doch mit der Morgenröte ging er wieder
Und wurde dann der Erde Tagesgast.
Da sprach der Mond: Was soll ich um ihn trauern?
Ein Scheiden gibt’s im Licht, doch keinen Tod.
Es wird nur wenig, wenig Stunden dauern,
Da kehrt der Freund zurück im Abendrot!“
    Sie schwieg und sah mich eigentümlich fragend an. Ich muß gestehen, daß ich zögerte, zu sprechen. Das war nicht, wie ich erwartet hatte, ein orientalisches Märchen, keine heidnische Sage, kein christliches Gleichnis. Wie sollte ich es nennen, wie rubrizieren? Aber war es denn so außerordentlich notwendig für mich, der nun sofort mit irgend einem Schema herbeistürzende Abendländer zu sein? Die Strophe wirkte ganz genau so, wie es der Dichter beabsichtigt hatte. Wer aber war dieser Dichter? Sie hatte von der Art und Weise des Ustad gesprochen, auf seine Leute einzuwirken. Geschah es vielleicht durch solche Gedichte, welche selbst von der Jugend sehr leicht verstanden und auswendig gelernt werden konnten?
    „Hast du gehört, was ich gesprochen habe?“ fragte sie, als ich so lange still war und nichts sagte.
    „Jawohl, meine liebe Pekala“, antwortete ich.
    „Und auch verstanden?“
    „Gewiß.“
    „Ich kann es nicht so sagen, wie es damals klang. Man muß die Augen voller Tränen um einen lieben Abgeschiedenen haben, um es so zu hören, wie es gehört werden soll. Und es muß mit einer Stimme gesprochen werden, die aus einem so kindlich gläubigen Herzen klingt, wie dasjenige meines Pfleglings damals war und heute noch

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