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22 - Im Reiche des silbernen Löwen III

22 - Im Reiche des silbernen Löwen III

Titel: 22 - Im Reiche des silbernen Löwen III Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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Natur. Der Körper, welcher sich fort und fort erneuert, bleibt nicht derselbe Leib, den uns die Mutter gegeben hat. Er verändert zwar nicht die Gestalt, doch stets und ununterbrochen die Stoffe, aus denen er zusammengesetzt ist. Er nimmt sie auf und gibt sie ab, beides zu gleicher Zeit. Der Körper, in dessen Ohr du heut das liebe Wörtchen ‚Vater‘ rufst, ist durch die Ausscheidung seiner jetzigen und die Aufnahme neuer, ihm ganz fremder Bestandteile nach zwei Jahren ein vollständig anderer geworden, und du aber nennst auch diesen gänzlich fremden noch deinen ‚Vater‘. Der Stoff also ist es nicht, der uns befreundet. Doch aber aus dem Mutterherzen floß dem Kind, bis es geboren wurde, mit jedem Puls das Leben zu. Und aus dem Elternherzen strahlte ihm die Liebe, die es nährte, pflegte und auf erzog, um es in dem ebenso täglich und immerfort sich erneuernden Menschheitskörper Aufnahme finden zu lassen. Ist es nicht diese Liebe, welche befreundet? Und nimmt also an dieser Verwandtschaft nicht die ganze Menschheit teil? Der Körper, den heut unsere Marah Durimeh besitzt, ist mir vollkommen fremd; er hat mit dem meinigen nichts, als die menschliche Form gemein. Und was verbindet diese beiden Gestalten mit den längst verwesten Körpern unserer Ahnen? Nichts, nichts und wieder nichts! Das, was ich Verwandtschaft nenne, besteht nur und allein in der liebenden Zuneigung zwischen Geist und Geist, zwischen Seele und Seele. Kann ich da aber von Onkel und Tante, von Neffe und Nichte sprechen? Gibt es da Vater und Mutter, Sohn und Tochter? Wenn ein großer, hoch entwickelter Geist einen kleinen unentwickelten an sich zieht und zu sich emporhebt, ist der eine dann der Vater und der andere der Sohn? Oder wenn eine zarte kindlich schwache Seele sich an eine gottbegnadete, starke schmiegt, um bei ihr Schutz und Sicherheit zu finden, ist die eine dann die Mutter und die andere die Tochter? Trachtet dein Geist, den meinen zu begreifen, so wirst du mir mehr und mehr verwandt, und verbindet deine Seele sich immer inniger und inniger mit der meinen, so treten wir uns durch diese Freundschaft näher, als wir durch die körperliche Geburt uns nähern konnten; aber in keiner Sprache der Menschen gibt es passende Worte, die Grade dieser geistigen und seelischen Verwandtschaft zu bezeichnen. Ich sage dir ein großes Geheimnis, mein liebes Kind: Es kann ein neuer Geist von einem oder einigen anderen geboren werden; Seelen aber stammen nicht von Menschenseelen, sondern nur allein von Gott, dem Herrn! Mein Leib und Marah Durimehs Leib gehen einander nichts an, obwohl wir gleiche Ahnen haben. Unsere Seelen kamen von Chodeh. Aber mein Geist wurde aus dem ihrigen geboren. Willst du nun noch fragen, ob ich vielleicht ihr Vetter oder wohl ihr Neffe sei? – So oder ähnlich antwortete mir der Ustad. Ich habe viel darüber nachgedacht und endlich es begriffen. Begreifst du es auch, Effendi?“
    „Ja. Sein Geist verschmäht längst die Oberfläche des Lebens; er schöpft nur aus der Tiefe. Und seine Seele wurde zwar in das Tal gesandt, nun aber wohnt sie hoch oben auf dem Berg. Wie glücklich seid ihr, in ihm ein Vorbild zu besitzen, nach welchem ihr, ungestört von anderen, streben könnt!“
    „Habt ihr nicht auch Vorbilder? Strebt ihr ihnen nicht nach?“
    „Unser Leben ist unendlich vielgestaltig. Über tausend, tausend Nichtigkeiten stolpert unser Fuß. Der eine beschimpft, was dem anderen heilig ist. Es gibt kein Ideal, welches nicht von feindlicher Seite mit Schmutz beworfen würde. Jeder hält allein nur sich für klug. Keiner ist nur allein Mensch, sondern hauptsächlich etwas anderes. Alle verlangen, daß ihnen vergeben werde, aber wo ist der, der auch selbst vergeben will? Wer – – –“
    Ich hielt inne. Beinahe erschrak ich über mich selbst. Ich hätte ja stundenlang in diesem Ton fortfahren können, aber was sollte da Schakara von unserm schönen, stolzen Abendland denken! Durfte ich so unvorsichtig sein, von Dingen zu sprechen, welche ich hier unbedingt zu verschweigen hatte? Die junge, unverdorbene Kurdin sah mich, als ich so plötzlich schwieg, fragend an. Ich öffnete schon den Mund, um von etwas anderem anzufangen, da glitt ein verständnisvolles Lächeln über ihr Gesicht, und sie sagte:
    „Ich weiß, ich weiß, Effendi! Es ist bei euch nicht alles so, daß wir es wissen dürfen. Christen gegen Heiden, Christen gegen Juden, Christen gegen Christen, so sieht es bei euch aus. Und alle, alle, alle diese

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