Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
22 - Im Reiche des silbernen Löwen III

22 - Im Reiche des silbernen Löwen III

Titel: 22 - Im Reiche des silbernen Löwen III Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
Vom Netzwerk:
hatte es den Himmel darstellen sollen. Es war längst eingefallen, und von den Pfeilern standen nur noch zwei, deren Knäufe menschlichen Köpfen mit Hals und Schultern glichen. Von den letzteren gingen nach den Seiten Flügel aus, um das Architrav zu bilden. Geflügelte Wesen! Sollte diese Meißelarbeit auf die Strahlenflügel schlagenden Amschaspands deuten, welche nach altiranischem Glauben den Himmel bevölkerten und im Sonnenlicht zur Erde nieder schwebten, um die Wünsche der Menschen im Gebet zu Gott emporzutragen?
    Man darf heutzutage kaum mehr von den Engeln reden, obgleich sogar in der Bibel zu wiederholten Malen und deutlich genug von ihnen erzählt und gesprochen wird. Warum? Der eine versteht unter ihnen wirklich existierende Geschöpfe Gottes; der andere läßt sie nur als Personifikationen gewisser Kräfte oder Eigenschaften gelten. Welcher von beiden hat recht? Aber wer gab dem anderen die Erlaubnis, über den beglückenden Kinderglauben des einen zu zürnen? Und von wem wurde diesem einen der Auftrag, dem anderen zu verbieten, die Ursachen und Wirkungen im Bereich der irdischen Natur zu poetischen Gestalten zu verklären? Die heilige Schrift bedient sich beider Anschauungsweisen. Sie erzählt von persönlich auftretenden Engeln, und sie spricht von Winden und Feuerflammen, die sie Engel nennt. Nur der Mensch allein ist es, der da ewig deutelt!
    Abermals zurücktretend und wieder etwas schmaler folgte nun ein zweietagiges Geschoß. Es stellte sich, obgleich aus hellerem Material gebaut, nichts weniger als freundlich dar. Es hatte nur oben Fensteröffnungen, nicht aufrecht stehend, sondern waagrecht liegend, als solle jeder Blick von außen her abgewiesen werden. Wie schmal, wie niedrig sie doch waren! Und unten gab es nur eine ebenso schmale Tür, deren Oberschwelle von zwei steinernen Tafeln gebildet wurde. Sie hatten eine Schrift enthalten, welche man wahrscheinlich noch jetzt entziffern konnte, doch sah ich, daß sie durch einen quer darübergehenden Riß wie ausgestrichen worden war. Sie hatten nicht Festigkeit genug gehabt, den Druck von oben auszuhalten.
    Dieser Bau sah ganz so aus, als müsse sein Bewohner jeden Augenblick aus der engen Tür treten, um in alle Welt hinauszurufen: „Daß sich mir niemand nahe! Ich bin der Auserwählte von Anfang an und werde es ewig bleiben!“ Auf dem Vorhof sah es wüst aus. Auf Haufen von Schutt und Scherben wucherte dichtes Unkraut. Besonders vor der Tür waren die Disteln und Stechranken so undurchdringlich geworden, daß der erwähnte imaginäre Bewohner am besten drinzubleiben und zu schweigen hatte. Üppige Dornen wanden sich auch um den Überrest eines steinernen Gebildes, dessen Gestalt ich also nicht erkennen konnte. Es schien eine Säule zu sein, die sich in sieben Arme geteilt hatte. War es vielleicht ein Kandelaber gewesen? Aber die Arme hatten einander nicht gekreuzt gegenübergestanden, sondern ihre noch vorhandenen Stümpfe zeigten, daß sie nebeneinander, also in gleicher Fläche, emporgerichtet gewesen waren. Wo gibt oder gab es solche Leuchter? Wem war das siebenfache Licht verlöscht, als jener Riß dort an der Tür quer über die beiden Tafeln ging? Hatte der ‚allanwesende El‘ da unten im Erdgeschoß nicht Macht genug besessen, die Leuchter hier oben zu schützen? Oder hatte man sein vergessen gehabt, grad so, wie man das Vermächtnis dessen vergaß, der einst in Chaldäa sein wirklich Auserwählter gewesen war?
    Jede der bisherigen Etagen hatte, wenn nicht einen besonderen Stil, so doch wenigstens Einheitlichkeit. Nun aber kam ein Geschoß, welches nur das Einheitliche besaß, daß die Gesamtfassade aus einem und demselben Material bestand. Dies war ein weißlich-grauer, dichter Kalkstein, vermengt mit den Überresten fossiler Organismen, Schnecken, Muscheln und Korallen. Das Bauwerk erhielt durch diese hellere Färbung, welche auch die in gleicher Höhe liegenden Brüche zeigten, ein freundliches, beinahe einladendes Aussehen; leider aber wurde dieser gute Eindruck fast vollständig dadurch aufgehoben, daß es sich in allen übrigen Beziehungen als ein architektonisches Quodlibet darstellte. Es gab Tore und Türen in den verschiedensten Formen und Größen. Eine imposante Freitreppe führte zu einem so engen und niedrigen Türchen, das man nicht aufrecht passieren konnte; man war gezwungen, zu kriechen. Und vor einem hohen, breiten, weitgeöffneten Tor lag eine alte, schmale, wackelige, hölzerne Treppenstiege, der eine ganze Anzahl

Weitere Kostenlose Bücher