22 - Im Reiche des silbernen Löwen III
ich zu dir kommen soll. Aber es ist der Wunsch des Ustad und auch des Peder, daß niemand dich belästigt. Sie bitten dich, zu denken, du seiest zwar hier in unserer Mitte, aber ganz unsichtbar für jeden, mit dem du nicht verkehren willst. Hast du jetzt etwas zu befehlen?“
„Bleib jetzt noch hier bei mir“, antwortete ich. „Ich bin doch fremd und werde dich wahrscheinlich zunächst um Auskunft zu bitten haben.“
Er erwartete wohl, daß ich mich setzen werde; aber dies zu tun war mir unmöglich. Der Blick, der sich mir von dieser Stelle aus bot, war so köstlich, so einzig, so unvergleichlich schön, daß er einen Sterbenden hätte zwingen können, die Augen wieder aufzuschlagen und nach diesem Erdenparadies zurückzukehren.
Die Sonne stand jetzt fast im Scheitelpunkt; also lag das Innere des Tempels, durch welchen ein reger Lufthauch strich, in kühlem Schatten. Ich lehnte mich an die Außenseite der Säule und ließ mein Auge rundum wandern gehen.
Im Osten schlossen sich die Berge bis auf jene Lücke, welche den Weg nach dem Hasen- und Kurierpaß offen ließ. Im Norden ragten himmelhoch die stillen, ernsten Gipfel, die durch Nadel- und dann Laubwald, immer wilder werdend, zu den Gärten und mit diesen bis mitten in den Duar hinabstiegen. Im Süden stand ich hier auf frommer Höhe, und im Westen trat das ‚hohe Haus‘, den Blick gefangen nehmend, aus dem mächtigen Massiv der schweren Felswand hervor.
Tief unten lag der See. Da die Sonne fast senkrecht über ihm stand, so strahlte er in jenem köstlichen, adularen Blauweiß, welches den ceylonischen Mondsteinen eigen war, die mir in den Juwelenläden von Colombo zum Kauf angeboten wurden. Auf dem Hauptweg des Duar herrschte reges Leben. Die Bewohner begannen, ihre Häuser und Zelte zu verlassen, um zum Beit-y-Chodeh emporzusteigen. Die Frauen und Mädchen trugen in malerischer Weise auf den Köpfen oder Schultern Tongefäße oder selbstgeflochtene Körbe mit Blumen und den Speisen, welche mitzunehmen waren. Die sich nicht, wie sonst im Orient, absondernden Männer gingen ihnen würdevoll zur Seite. Die Kinder füllten, stets in lebhafter Bewegung, sämtliche Lücken aus. Das waren nicht die langsamen, schweren, melancholischen und nur selten eine Miene verziehenden Puppen, als welche im Morgenland sich so oft die Kinder zeigen! Auch ein Teil der Tierwelt war mit in Bewegung, denn man hatte für frische Milch zu sorgen; die deshalb mitzunehmenden Kühe und Ziegen waren mit grünen Zweigen geschmückt, und manche von ihnen trugen bunte Sträuße auf den Hörnern. Waffen sah ich nicht. Es war ein Bild der Eintracht und des Friedens.
Das alles erfaßte ich mit einem kurzen Blick. Dann lenkte ich meine Aufmerksamkeit dem ‚hohen Haus‘ zu. Was ich in Tifls Manier von dem Gespräch des Ustad mit dem Fremden über dieses Haus gehört hatte, das sah ich nun vor meinen Augen liegen. Es war einiges dabei gewesen, was ich nicht verstehen konnte; nun aber begriff ich es sofort. Ja; der Ustad hatte recht gehabt: ich sah eine in Stein laut tönende Predigt der Jahrtausende vor mir liegen. War sie häßlich, war sie schön? Das fragte ich mich nicht. Ich sah und hörte sie zu mir herüberklingen, in Tönen, die so gewaltig waren, daß für Stilfragen weder Zeit noch Raum in mir gefunden wurde. Die Wirkung war da; was kümmerte mich der Stil!
Was sind die altindischen Tempel? Die ägyptischen Pyramiden? Die mittelamerikanischen Teocalli? Gewaltige Menschenwerke, welche der Zerstörung bis heutigen Tags trotzten, ja. Doch reden sie zu uns von einer gewissen, ganz bestimmten Zeit in einem ebenso gewissen, ganz bestimmten Ton. Hier aber lag ein Bau vor mir, zu dem in unberechenbarer Vorzeit der Grund gelegt worden war; die später Gekommenen hatten ihn fortgesetzt, und heut sah ich, daß er noch fortzusetzen war. Also kein Überrest aus einer vergangenen, besonderen Epoche, sondern ein steinernes Kalenderwerk von Anbeginn bis auf die Gegenwart, mit Raum auch noch für die zukünftige Zeit!
Von Anbeginn?
Ja, von Anbeginn! Denn die lange, untere, massive, viele, viele Meter hohe und bis in das Innere des Berges reichende Mauer hatte kein anderer als nur der gegründet, der von Anfang war! Waren vielleicht die höheren Teile dann ihm geweiht gewesen? Wie hieß hierauf der Mensch, der mächtige, dem diese Riesenmauer noch zu niedrig gewesen war? Vielleicht Olor, der sagenhafte? Oder war es Hasisadra, von dem man sagt, daß er zur Zeit der Sündflut dort König gewesen
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