22 - Im Reiche des silbernen Löwen III
Wort. Nun ich es hatte, zeigte mir mein Auge die Bestätigung. Ich hatte bisher nicht auf einen Umstand geachtet, den ich erst jetzt bemerkte. Die Stelle, an welcher das Zelt stand, lag nämlich gerade über dem Etagenbau. Indem ich nun den Linien desselben folgte und sie bis oben weiterführte, sah ich, daß der unten auf der breiten Felsenbasis ruhende und aufwärts immer schmaler werdende Bau bei einer gedachten Weiterführung ein gleichschenkeliges Dreieck bilden mußte, dessen Spitze ganz genau das Zelt berühren würde.
War dies Berechnung vom Ustad? Jedenfalls! Das Thema der vor mir in Stein erklingenden Predigt hatte mir der Felsengrund im tiefsten Ton heraufzurufen:
„Wo warst denn du, o Mensch, als ich die Berge gründete?
Wo stecktest du, als ich die Sonnen einst entzündete?
Wo sind sie alle hin, die hier zum Berge kamen?
Bau auf mein ew'ges Wort; steig auf zur Sonne. Amen!“
So sprach der Fels, der einst aus der Tiefe stieg, um alles, was da lebt, emporzuheben. Und nun der Menschenbau! Seine Lippe war längst erstarrt, hohl, leer und darum stumm sein Mund. Aber seine steinerne Leiche lag vor mir ausgestreckt in jener wortlosen und doch überwältigenden Beredsamkeit, die jedem von der Seele verlassenen Leib eigen ist. Dann kam die leer gebliebene und also der Zukunft vorbehaltene Baustelle. Was sagte sie? Sie sprach nur Fragen aus. Wer ist es, der da kommen wird? Vielleicht einer, der niemals starb? Der, welcher mitten unter ihnen ist, wenn zwei oder drei versammelt sind in seinem Namen? Aber wenn er es täte, würde er in der bisherigen Weise weiterbauen? Sprach er nicht immer nur von seines Vaters Haus, in dem es viele Wohnungen gebe und daß er hingehe, sie für uns vorzubereiten? Warum also hier Stein auf Stein türmen, wenn wir gar nicht bleiben können? Warum Häuser neben und über Häuser bauen, während für unsere kurze Wanderung ja doch ein Zelt genügt?
Da stand es oben, dieses Zelt, hell leuchtend an der Scheidelinie zwischen Himmel und Erde! Jahrtausende haben da unten gebaut, stark und fest wie für endlose Zeiten, und doch und doch vergeblich für die Ewigkeit! Und da kommst du, o Ustad, du Unbekannter, du, der du dem Auserwählten von Chaldäa gleichst, der dort sein Zelt abbrach, um es im Haine Mamre wieder aufzuschlagen. So schlugst auch du dein Zelt da oben auf. Du nennst es das Amen der unter ihm erklingenden Berg- und Felsenpredigt. Ich habe dich verstanden. Möchten doch auch andere dich verstehen! – – –
Ich hätte jetzt noch gern verschiedene Fragen an Tifl gerichtet; aber da erklangen drüben, ganz unerwartet für mich, die Glocken, und ich sah die Dschamikun erscheinen. Sie bildeten einen Festzug, welcher mir hinter dem dichten Grün der Gärten verborgen geblieben war. Nun er die offene Matte erreichte, mußte ich ihn bemerken.
Voran schritt der Peder. Ihm folgte eine Anzahl meist graubärtiger Männer, welche zusammenzugehören schienen.
„Das ist die Dschema“, sagte Tifl.
Nach ihnen kamen die Bewohner des Duar mit allen ihren Gästen, wohl geordnet, doch in beliebiger Reihenfolge, zunächst die männlichen und dann die weiblichen mit den Kindern und dem wirtschaftlichen Zubehör. Sie zogen heran, erst über die grünende Weide, dann durch den duftenden Park. Als der Zug den Tempel erreicht hatte, löste er sich auf. Die Tiere wurden nach dem Waldesrand geführt, wo eine reichlich fließende Quelle frisches Wasser gab. Jedermann ging, wohin es ihm beliebte. Der Peder aber kam mit der Dschema die Stufen heraufgestiegen. Es waren feierliche Augenblicke. Ich fühlte mich ergriffen von dem Gefühl ernster und doch froher Erwartung.
Wo aber war der Ustad? Ich sah ihn nicht. Da bemerkte ich, daß die Männer der Dschema ihre Blicke aufwärts nach dem Wald richteten. Ich drehte mich um. Er kam.
Sein Gewand war kein anderes als das bescheidene, härene, in welchem ich ihn schon gesehen hatte. Er trug keinen anderen Schmuck als nur eine halboffene Rosenknospe an der Brust und eine ebensolche in der Linken. Aber wie er so aus dem dunklen Wald trat und sinnend mild zu uns herniederstieg, mußte ich an das Wort Jesaias, des Sohnes Amos denken:
„Wie köstlich sind auf den Bergen die Füße der Boten, welche den Frieden predigen, das Gute lehren und das Heil verkündigen! Die da sagen zu Zion: dein Gott ist der Herrscher!“
An ihm war nichts, was glänzte und was gleißte. Doch alle, die ihn sahen, schauten ihm so aufrichtig liebend und ehrfurchtsvoll entgegen,
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