22 - Im Reiche des silbernen Löwen III
wollte. Die Menschen, welche hier erschienen und verschwanden, haben einst, da sie noch lebten, hörbare Worte gesprochen; ein höherer Wille aber trieb sie an, dem vergänglich Hörbaren steinerne Gestalt zu verleihen, um es bleibend sichtbar zu machen. Jeder von ihnen hat geglaubt, daß nur er allein der Weise, der Erleuchtete sei, daß nur er allein das Richtige getroffen habe. Aber nur einer von ihnen, der erste, baute auf den eigentlichen Grund. Auf was aber setzten die anderen ihre Steine? Auf das, was sie verwarfen! Könntest du es anders machen, wenn du bei uns bleiben und da drüben bauen wolltest? Die Gedanken wären wohl vielleicht von einem anderen Ort; die Steine aber müßtest du von diesem unserm Berg nehmen, und die Arbeit müßte dir von uns geliefert werden. Nun frage ich dich, welchen Einfluß wohl dieses Material und diese unsere Arbeit auf deine Gedanken haben würden. Zeige mir in den Stockwerken da drüben einen reinen, einheitlichen Stil! Er fehlt, und darum hast du dieses Haus häßlich genannt. Gibt es überhaupt einen allein echten, einen allein wahren Stil? Bist du es, der ihn bringt? Wird in deiner Heimat ganz ausschließlich nur nach ihm gebaut? Du schweigst. Ich will dasselbe tun!“
Es ist ganz selbstverständlich, daß der gute Tifl nicht so sprach, wie ich seine Äußerungen hier niederschreibe. Er gab sich alle Mühe, die Ausdrucksweise seines Herrn nachzuahmen, und es war wohl rührend, zu hören, daß ihm das Unmögliche so ganz und gar nicht gelingen wollte. Aber ich hatte da wieder einen hochinteressanten Beweis von dem Einfluß jenes wohltätigen Geistes, der mit dem geheimnisvollen Herrn des ‚hohen Hauses‘ hier bei den Dschamikun eingezogen war. Ich mußte zwar vieles erraten und manches ergänzen, aber die Hauptsache war doch die, daß Tifl den Ustad verstanden hatte und mit mir nun hierüber sprechen konnte. Auf diesem bescheidenen Weg hatte wohl manches tiefe und schöne Wort des greisen, ehrwürdigen Denkers nicht nur im Duar, sondern auch noch weit über ihn hinaus die beabsichtigte Verbreitung gefunden. Der Mund des ‚Unmündigen‘ spricht oft wirkungsvoller als die Lippe der Gelehrsamkeit.
Als wir den Weg nun fortsetzten, führte er uns aus den Gärten heraus auf eine grüne Alm, die sich bis hinauf zu den Blumensäulen des Beit-y-Chodeh ausbreitete, hinter welchem dann der hohe, von zahlreichen Pfaden durchzogene Wald begann. Der Tempel selbst war, wie bereits längst gesagt, von einem umfangreichen Strauch- und Rosenpark umgeben, den des Schattens und der Winde wegen breitkronige Bäume flankierten. Als wir durch diese Anlage kamen, hätte ich am liebsten anhalten lassen, um aus der Sänfte zu steigen und bewundernd von Strauch zu Strauch, von Busch zu Busch zu gehen. Was für herrliche Rosen waren da zu sehen! Wie verschieden die Sorten, und wie schön jede einzelne in ihrer Art! Und zwar in dieser Höhe des Gebirges! Welche Mühe und Arbeit, welche Liebe und Geduld war nötig gewesen, um alle die duftenden Kinder des Tieflandes und der windstillen Täler hier oben zu akklimatisieren! Mit welchem Verständnis war der Park angelegt, und wieviel fleißige ‚Blumenhände‘ gehörten dazu, ihn so zu erhalten, wie er jetzt vor mir lag! Ich sah, daß man noch bis in die letzten Stunden mit dem Messer tätig gewesen war, um alles zu entfernen, was sich als unschön oder auch nur überflüssig zeigte.
Das Beit-y-Chodeh lag mitten in dieser Herrlichkeit auf einer breiten, weit hervorstehenden und festgegründeten Felsenplatte; die aus der kompakten Masse des Berges nur zu dem Zweck hervorgesprungen zu sein schien, als Trägerin eines so weit in die Umgegend hinausleuchtenden Gotteshauses dienen zu sollen. Die abfallende Lage brachte es mit sich, daß die vorderen Säulen auf hohem Felsen fußten, der auf breiten Stufen zu ersteigen war, während die hintere Seite sich auf der Berührungslinie des Steines mit dem Berg erhob.
Das Innere des Tempels war mit Platten ausgelegt und, wie schon einmal erwähnt, vollständig leer. Aber heute hatte man vorn, an der östlichen Säule, von welcher aus sich die beste Aussicht in die Weite und ein Überblick der ganzen Nähe bot, für mich einen Sitz hergerichtet, nach welchem ich direkt getragen wurde. Als ich ausgestiegen war, entfernten sich die Leute mit der Sänfte; Tifl aber sagte:
„Ich bin dein Diener für den ganzen Tag, Effendi. Ich werde stets dort an der hintersten Säule sein. Du brauchst mir nur zu winken, wenn
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