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22 - Im Reiche des silbernen Löwen III

22 - Im Reiche des silbernen Löwen III

Titel: 22 - Im Reiche des silbernen Löwen III Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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denen, wie ich später hörte, Hanneh und Kara schliefen.
    Daß es in dem Kalkfelsen über dem Haus Höhlen gab, habe ich schon erwähnt. Auch daß in einer von ihnen die Glocken hingen, zu denen ein Weg und eine bequeme Treppe führte. Nun aber sah ich noch etwas bisher für mich vollständig Unbekanntes. Nämlich das eigentliche ‚hohe Haus‘.
    Ich hatte bei dieser Bezeichnung stets nur an die Wohnung des Ustad gedacht. Jetzt glaubte ich, den vorhin beschriebenen Etagenbau so nennen zu müssen. Ich fragte Tifl, und er sagte mir, daß das wirkliche ‚hohe Haus‘ dort auf der höchsten Höhe stehe, daß man aber nebenbei diese Bezeichnung auch den beiden anderen Bauwerken gebe, weil auch sie von den Bewohnern des Duar dem Ustad überlassen worden seien.
    Auf der Spitze des Berges, hoch über der ganzen Umgegend, doch auf bequemen Pfaden zu erreichen, da, wo der klare Himmel sich für das Auge auf die grüne Alpe legte, stand in andächtiger Erdenstille ein nach vier Seiten offenes, weitgespanntes, weißes Leinwandzelt. So schien es mir beim ersten Blick. Aber die vermeintliche Leinwand empfing die Strahlen der über ihr stehenden Sonne nur, um sie in so wunderbarer Weise in das Tal herniederzubrechen, daß ich mein Auge mit der Hand beschirmte, um das flimmernde Licht von ihnen abzuhalten. Da sah ich freilich, daß es nicht Leinen, sondern, man denke, Alabaster war. Freilich aber ist da nicht der echte Gipsalabaster gemeint, den man z.B. in Derby und Volterra findet und zur Herstellung teurer Kunstwerke verwendet, sondern der mit dem Tropfstein verwandte und häufig vorkommende Kalkalabaster, den die Kalkhöhlen ihres Berges den Dschamikun geliefert hatten. Tifl bestätigte mir dieses letztere. Er nannte den Alabaster ‚weißen Rucham‘ (Marmor) und sagte:
    „Im Innern dieses Berges und auch anderer Berge der Umgegend gibt es sehr große Mengen dieses schönen Steins. Man erkennt sein Vorhandensein an dem Wasser, wenn es aus dem Gebirge zu Tage tritt. Es löst den Kalk wie Zucker auf und setzt ihn in den Felsenzwischenräumen als festen Rucham wieder an. Doch nimmt es noch so viel Kalk mit sich fort, daß man ihn leicht bemerkt.“
    „Wer hat das Zelt da oben gebaut?“
    „Wir.“
    „Gibt es denn Leute bei euch, welche gelernt haben, diesen Stein zu brechen, zu bearbeiten und zu polieren?“
    „Ja. Der Ustad hat sie es gelehrt. Als er noch jung war, hat er in den Städten, wo es große Plätze für die Toten gibt, überall gern den Kabristan (Friedhof) besucht, um die Grabdenkmäler zu betrachten. Er verweilte sehr oft in den Werkstätten der Bildhauer, wo die Türban (Grabsteine) gehauen werden, um mit ihnen darüber zu sprechen, welche Gestalt und welchen Sinn man ihnen eigentlich geben sollte. Da hat er nicht bloß zugeschaut, sondern auch mit zugegriffen und also gelernt, wie Bildnissteine zu behandeln sind. Von dem Zelt da oben hat er eine Zeichnung gemacht und vorher alles genau berechnet, ehe er mit den Leuten, die er dazu aussuchte, an die Arbeit ging. Sie waren nicht geübt, und es ist also manches Stück von ihnen zerbrochen oder verdorben worden. Aber der Ustad hatte Geduld, und so wurde das Werk, wie du siehst, endlich doch so fertig, wie es von ihm vorgeschrieben war. Aber es hat viel Zeit gekostet, sehr viel Zeit, weil die Arbeiter alles erst zu lernen hatten!“
    Das glaubte ich ihm gern. Einem höhern Gedanken zeitlich dauernde Gestalt zu geben, dabei hat ja die Zeit ganz vorzugsweise mit beteiligt zu sein. Wahre Kunstwerke werden nicht vom Augenblick vollendet, auch wenn ihm gewandte Hände und nicht ungeübte Dschamikun zur Verfügung stehen.
    „Gefällt es dir, Effendi?“ fuhr Tifl fragend fort.
    „Gefallen? Das ist zu wenig gesagt. Ich möchte täglich hier stehen und zu ihm aufwärts schauen. Es wohnt ein Wort in diesem Zelt, ein großes, ernstes, und unendlich vertrauensvolles Wort. Es fällt mir jetzt nicht ein; ich muß es aber finden.“
    „Vielleicht weiß ich es und kann es dir sagen.“
    „Du?“ fragte ich verwundert und ungläubig.
    „Ja, ich! Freilich bin ich nicht klug genug, hierüber nachzudenken und das Wort zu finden. Aber wahrscheinlich ist es dasselbe Wort, welches der Ustad sagte, als das Zelt fertiggeworden war. Er bezeichnet es auch oft mit ihm.“
    „Welches Wort ist es?“
    „Amen! Wenn er von dem Zelt spricht, so nennt er es zuweilen ‚unser Amen‘. Ich verstehe das nicht; aber du wirst es begreifen.“
    Ja, ich begriff es. Amen! Das war das richtige

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