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22 - Im Reiche des silbernen Löwen III

22 - Im Reiche des silbernen Löwen III

Titel: 22 - Im Reiche des silbernen Löwen III Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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er sie noch einmal, als ob ich sie ja nie vergessen solle:
    ‚Der eine gibt; der andere nimmt. Der eine stirbt; der andere wird geboren. Wenn die Menschen doch wüßten, daß jeder Geburtstag auch zugleich ein Tag des Sterbens ist! Mein Sterbetag ist heute!‘“
    Die gute Pekala hatte diese Wiederholung nur schwer zu Ende gebracht. Jetzt hob sie die Falten ihres Schleiers zum Gesicht empor, um es darin zu verbergen, und weinte, leise schluchzend, vor sich hin. Wie kam es doch, daß auch mir die Augen feucht wurden? Es gibt Worte, welche, mögen sie gesprochen werden, wann und wo es auch sei, sich so tief in das Herz des fühlenden Menschen senken, daß er sich ihrer Wirkung nicht entziehen kann.
    „Du hast dir das sehr gut gemerkt, liebe Pekala“, sagte ich, um sie von ihrem Schmerz abzulenken.
    Sie strich die Tränen fort, ließ den Schleier wieder nieder und antwortete:
    „Ich bin dann sogleich draußen vor seiner Tür stehengeblieben und habe die Worte auswendiggelernt, um sie niemals zu vergessen.“
    „War das alles, was er sagte?“
    „Alles! Aber war das nicht genug, mehr als genug, Effendi? Muß es nicht fürchterlich für einen Menschen sein, zu wissen, an welchem Tag er sterben werde?“
    „Noch ganz anders ist es, wenn ein Mensch weiß, daß er gestorben ist!“
    „Das ist unmöglich. Kann er denn leben und doch wissen, daß er tot sei? Aber daß es Leute gibt, welche ihren Sterbetag voraus wissen, das habe ich schon oft gehört.“
    „Kein Mensch kann ihn wissen, kein einziger, außer er will zum Selbstmörder werden. Gott hat sich die Bestimmung dieses Tages vorbehalten und wird entweder in seiner Güte oder in seiner Gerechtigkeit die Entscheidung treffen.“
    „Aber der Ustad weiß ja doch den seinen!“
    „Nein, auch er nicht!“
    „Hast du nicht soeben seine eigenen Worte gehört?“
    „Du deutest sie falsch. Du hast das Wörtchen ‚war‘ mit dem Wörtchen ‚ist‘ verwechselt.“
    „Das verstehe ich nicht, Effendi.“
    „Denke nach, und erinnere dich genau! Hat er gesagt: ‚Mein Sterbetag war heute.‘ Oder sagte er: ‚Mein Sterbetag ist heute.‘ War oder ist? Hierauf kommt es an.“
    „Ich weiß es: ‚War heute‘; so sagte er.“
    „Also hat er nicht ein zukünftiges, sondern ein schon vergangenes Sterben gemeint. Es ist das ein tiefes, tiefes Wort von ihm gewesen, und ich wundere mich nicht darüber, daß du dich in seiner Deutung irrtest.“
    „Also meinte er, daß er schon gestorben sei?“
    „Ja.“
    „So war sein Wort ein Rätsel!“
    „Allerdings.“
    „Wer kann es lösen? Ich nicht!“
    „Ich auch nicht. Kein anderer Mensch kann es lösen, als nur er allein. Wem der Tod oder vielmehr das Sterben überhaupt ein Rätsel ist, dem wird der wahre Todestag, die eigentliche, wirkliche Zeit des Sterbens, ganz gewiß erst recht verborgen bleiben. Es gibt nur wenige, sehr wenige Menschenkinder, welche wissen, warum und wo und wie und wann man stirbt. Man kann körperlich leben und geistig oder seelisch doch gestorben sein. Und wie das eine möglich ist, so auch das andere. Auch Isa Ben Marryam, den wir den Heiland nennen, verlangt vom Menschen, daß er neu geboren werde. Wer hat da aber zu sterben? Die Bibel antwortet: Der alte Adam. Wer ist das? Du siehst also, daß die christliche Religion ein Sterben und Geborenwerden mitten in diesem unseren gegenwärtigen Leben von uns fordert. Hierin liegt eine der verschiedenen Weisen, in denen das Rätsel des Ustad gelöst werden kann. Für ihn ist es schon längst kein Rätsel mehr. Denn wer da weiß, daß er gestorben ist, und sogar den Tag genau kennt, an welchem es geschah, der schaut nicht mehr in ein trügerisches Dämmerlicht, sondern vor seinen Augen liegt der helle Tag in seliger Klarheit ausgebreitet.“
    Ich hatte mich an den Tisch gesetzt und zu Messer und Gabel gegriffen; da erscholl vom Rand der Lichtung her die Stimme ‚unseres Kindes‘:
    „Der Ustad kommt. Ich trete auf die Seite.“
    Er zog sich hinter die Bäume zurück. Ich wollte wieder aufstehen, aber Pekala bat mich:
    „Tu nicht, als ob du es weißt! Er wird sich gewiß freuen, dich essen zu sehen.“
    Da begann ich denn, zuzulangen.
    Tifl hatte ihn gewiß schon von weitem bemerkt, denn es dauerte längere Zeit, ehe er erschien. Nun, als er auf die Lichtung trat, legte ich das Besteck natürlich wieder weg. So, wie jetzt er, war wohl auch Abraham einst einhergeschritten, wenn er im Haine Mamre wandeln ging. Und seine Gäste hatten ihm in solcher

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